Australiens „geraubte Generation“ kämpft

■ Aborigines verklagen die Regierung, weil sie als Kinder ihren Eltern weggenommen wurden. Doch die Regierung will Entschädigungszahlungen an zahlreiche Opfer vermeiden

Sydney (taz) – Zwei australische Ureinwohner haben die Regierung in Canberra wegen „Vernachlässigung der Sorgfaltspflicht“ verklagt. Die beiden Aborigines wollen damit offiziell als Opfer der Regierung anerkannt werden. Sie fordern Entschädigung für „fortwährendes Leid“, weil sie als Kinder gewaltsam ihren Familien entrissen wurden. Ein Gesetz hatte es staatlichen und kirchlichen Organisationen bis in die 70er-Jahre hinein erlaubt, Aborigine-Kinder ihren Eltern wegzunehmen.

Wie eine Untersuchung der australischen Menschenrechtskommission von 1997 ergab, sind mindestens 30.000 Aborigines auf Grund dieses Gesetzes ihren Familien „geraubt“ worden. Polizisten und so genannte „Wohlfahrts“-Bürokraten suchten vor allem nach hellhäutigen Mischlingskindern, die in die überwiegend weiße Gesellschaft Australiens „integriert“ werden sollten.

Der Historiker Peter Read war einer der ersten weißen Australier, die sich mit diesem düsteren Kapitel beschäftigten: „Im 19. Jahrhundert sagten weiße Politiker und Missionare, sie wollten die Aborigines 'zivilisieren‘, und in den 50er- und 60er-Jahren sagten die Behörden, sie wollten den 'armen, vernachlässigten Aborigines-Kindern helfen‘.“ Die ehrlichste Erklärung jedoch enthalten Dokumente aus den 20er-Jahren: Man wollte die Aborigines-Kinder aus ihren Familien entfernen, damit sie nicht weiter ihre Kultur und Lebensweise fortsetzen konnten. „Die Aborigines sollten aussterben“, meint Peter Read.

Viele Opfer wurden in Heimen und bei weißen Arbeitgebern misshandelt, sexuell missbraucht oder als kostenlose Arbeitskräfte ausgebeutet. Die australische Menschenrechtskommission bezeichnete diese Politik in ihrem Bericht von 1997 denn auch als „Völkermord“.

Lorna Cubillo, die 1945 als Achtjährige ihrer Familie entrissen wurde, berichtete dem Bundesgericht in Darwin, wie ihre Großmutter sie vor den weißen „Wohlfahrtsoffizieren“ zu verstecken versuchte: „Meine Großmutter malte mich mit Ruß und Asche schwarz. Doch dann kamen weiße Männer und wuschen die dunkle Farbe von meinen Beinen. Sie nahmen mich mit.“ Lornas Großmutter und ihre Adoptivmutter folgten ihr barfuß durch die Wüste bis nach Alice Springs. Doch nach wenigen Tagen wurde Lorna „auf einem mit Stacheldraht überdeckten Lastwagen“ hunderte Kilometer weit in ein Kinderheim nach Darwin gebracht, wo ihre Familie sie nicht mehr finden konnte. Dort sei sie regelmäßig mit einem Lederriemen ausgepeitscht worden, wenn sie ihre eigene Sprache sprechen wollte, erklärte sie dem Gericht. Schon vorab hatten Regierungsanwälte die Kläger zu diskreditieren versucht, denn es geht um hohe Entschädigungssummen. 700 weitere Angehörige der „gestohlenen Generation“ haben sich bereits an einen Anwalt gewandt, um ebenfalls Entschädigungen zu erhalten. Tausende könnten folgen. Die Anwälte der Regierung hatten deshalb versucht, Cubillos Aussage zu verhindern. Die Anwältin Elizabeth Hollingworth hatte die Aussagen der Klägerin als „wildes Gefasel“ bezeichnet. Richter Maurice O'Loughlin hingegen attestierte dem Verfahren wegen der zu erwartenden Grundsatzentscheidung „nationale Bedeutung“.

„Den meisten von uns geht es nicht um Geld. Wir wollen nur, dass man die australische Geschichte so sieht, wie sie ist. Wir wollen, dass man unser Leiden anerkennt. Und wir wollen ein einziges Mal hören, dass es der australischen Gesellschaft Leid tut“, sagt die frühere Vorsitzende der indigenen Selbstverwaltungsorganisation Atsic, Lowjita O'Donoghue.

In den vergangenen zwei Jahren haben sich verschiedene Gruppen, darunter auch die Kirchen, für ihre Rolle bei der Umsetzung der „rassistischen Politik“ entschuldigt. Premier John Howard weigert sich jedoch hartnäckig, eine offizielle Entschuldigung auszusprechen. Sein Argument: Die heutige Generation könne nicht für die Untaten ihrer Vorfahren verantworlich gemacht werden.

Die Regierung versprach stattdessen „Taten statt Worten“. Der Minister für Aborigines-Angelegenheiten versprach neue und effizientere Programme für die Verbesserung ihrer Lebensumstände. Doch der Erfolg bleibt bislang aus: Laut Statistik sind die Aborigines immer noch die am meisten benachteiligten Australier.

Ihre Lebenserwartung ist um fast 20 Jahre geringer als die ihrer Mitbürger, die Kindersterblichkeit ist bei ihnen doppelt so hoch, die Arbeitslosigkeit wesentlich höher, ihr Einkommen geringer. Viele sind zutiefst traumatisiert. Ihr Trauma sei oft nur mit dem von Opfern des Holocaust oder von Folter zu vergleichen, so eine Studie. Eine der wichtigsten Ursachen dieses Traumas sei die Entfernung von Aborigines-Kindern aus ihren Familien. Esther Blank