Die Akte Hempel

1938 erklärten die Nationalsozialisten ein sechsjähriges Mädchen für debil und psychopathisch – einfach so. 1940 sollte Elvira vergast werden, doch sie war „arbeitswillig“. 1999, Ende dieses Monats, werden die Unrechtsurteile aus der NS-Zeit ungültig. Für Elvira Manthey gilt die Rehabilitierung nicht. Bei ihr gab es kein Urteil, lediglich eine „Krankenakte“  ■   Von Uta Andresen

Sie wollte dem Schäuble nur ihre Dokumente überreichen und ein paar Worte dazu sagen. Dass er sich für sie einsetzen solle. Dass er etwas tun solle, damit sie das alles weghabe, irgendwann einmal.

Es war eine dieser Wahlveranstaltungen, damals, vor drei Jahren, auf der der CDU-Mann Wolfgang Schäuble sprach, und er muss für einen kurzen Augenblick gedacht haben: Attentat. Seine Bodyguards besorgten den Rest. Sie drängten die alte Frau vor die Tür, sorgten dafür, dass sie nicht mehr hineinkam. Ihre Dokumente hielt sie noch in der Hand.

Ihre Akte, von der sie sagt, dass sie eine verbrecherische Akte sei und keine Krankenakte. Ihr Buch, das sie ihrem Mann diktiert hatte und das sie nach ihrem Mädchennamen „Die Hempelsche“ nannte. Und ihre Petition an den Deutschen Bundestag, doch endlich das NS-Erbgesundheitsgesetz für nichtig zu erklären.

Dass ausgerechnet sie ein Buch schreiben würde. Irgendwie ein Witz. Einer, bei dem man lange auf die Pointe warten muss – Elvira Manthey zum Beispiel 50 Jahre. Einer, bei dem man aufs Grinsen verzichtet – das eher schnell.

Elvira Manthey konnte nicht schreiben. Erst später ging es damit etwas besser, als ihre Angelika in der Schule war. Da hockte sie mit dem Kind nachmittags in der Küche über den Hausaufgaben und lernte mit.

Sie sollte nie schreiben lernen. So wollte es ihr Vormund, das Jugendamt in Magdeburg. Dem galt sie irgendwann als debil und psychopathisch. Warum, das weiß keiner so genau. Vielleicht war es das Bettnässen, im Heim, in das ihre Mutter sie mit vier Jahren gab, weil auch dieses Kind eines zuviel war bei sieben. Vielleicht war es aber einfach auch der Fakt, dass sie die Tochter ihres Vaters war.

„Otto Hempel war der größte Strolch, den es überhaupt gab“, schreibt Elvira Manthey in ihrem Buch, das ein makaberer Witz der Geschichte ist. Der Strolch, ihr Vater, ließ seine Kinder Schrott sammeln und legte sich ins Bett. Der Strolch machte seiner Frau jedes Jahr ein Kind und ging zu seinen Freundinnen. Der Strolch putzte sich fein heraus, und seine Kinder hungerten.

Otto Hempel also war das, was die Nationalsozialisten „arbeitsscheu“ nannten. Und das war wohl der Grund, warum zwei seiner Kinder, Elvira und Lisa, letztlich ins Heim kamen, Elvira sieben Jahre lang und Lisa nie wieder heraus. Arbeitsscheu, das galt den Nationalsozialisten als nicht lebenswert – also kontrollierbar.

„Rechenschwäche! ... Sicher unterwertige, geistige Fähigkeiten ... beschäftigt sich wie ein Kleinkind mit Bausteinen. Auf der Abtlg. sonst artig, folgsam (bisher!) Häufiges Einnässen ... Debilität und Psychopathie. Größte Erziehungsschwierigkeiten. Aufnahme in die Landesheilanstalt Uchtspringe ist dringend erforderlich.“ Ärztliches Zeugnis 6. 9. 1938 (Zu diesem Zeitpunkt war Elvira Hempel sechs Jahre, Anm. der Autorin)

Wie stellt man sich eine Frau vor, die, und das amtlich verbrieft, als geisteskrank gilt? Vielleicht schielt sie. Sicher haspelt sie. Wenigstens einen Tick muss sie haben, so ein nervöses Zucken. Elvira Manthey hat ein Haarteil. Eines von denen, die man mit 67 Jahren eben so hat. Sie trägt ein türkises Kleid aus Synthetikfaser. Eines von denen, die man eben so trägt, in einem bestimmten Alter, wenn man so etwas wie Mode nicht mehr wichtig nimmt. Elvira Manthey sieht sich einen Fernsehfilm an, den sie auf Video aufgenommen hat. „Der ist von Ernst Klee“, sagt sie. Sie muss ihn schon öfters gesehen haben. Wer achtet sonst schon auf den Autor einer Dokumentation? „Sichten und Vernichten“ heißt die Sendung und zeigt, was die Nationalsozialisten sich so unter Euthanasie vorstellten. „Das wollten die auch mit mir machen“, sagt sie.

Sichten und Vernichten. Über 200.000 Anstaltsinsassen wurden zwischen 1940 und 1945 ermordet. Psychisch Kranke und Behinderte, Hilfsbedürftige und Auffällige, Arme und Alte. Sie wurden vergast, vergiftet, zu Tode gehungert und erschossen – in eigens dafür eingerichteten Anstalten wie Hadamar bei Limburg oder Brandenburg an der Havel.

„Bei Frau M. liegen weder ein angeborener Schwachsinn (Debilität) noch eine Geisteskrankheit vor. Im Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene lag sie mit einem Gesamt-Intelligenzquotienten von 105 im oberen Bereich der durchschnittlichen Intelligenz.“ Ärztliche Bescheinigung 21. 2. 1992

Elvira Manthey redet. Redet von Uchtspringe in Sachsen-Anhalt, wo sie im Heim geschlagen wurde und später ihre kleine Schwester schlug, weil sie mit ihren Aggressionen nicht mehr zu Rande kam. Redet von Professor Doktor Fünfgeld, der sie für debil und psychopathisch erklärte und dessen Schwiegertochter zu ihr am Telefon sagte, er sei ein Menschenfreund gewesen, war er doch nach dem Krieg verdienter Psychiater in Marburg. Redet von der Bundesrepublik Deutschland, die sie nicht rehabilitieren will und so ihre Enkel dazu abstempelt, Nachkommen einer erblich Geisteskranken zu sein.

Elvira Manthey sitzt auf ihrem Sofa und redet. Auf Fragen wartet sie nicht, Pausen macht sie keine. „Ich durfte mein Leben lang nicht darüber reden“, sagt sie irgendwann einmal. Denn hätte sie sonst eine Arbeit bekommen? Hätte sie sonst ihr Kind, ihre Angelika, behalten und großziehen dürfen? Frühes Reden hätte in ihrem Falle schnelle Vorurteile, mindestens aber langwierige Überprüfungen bedeutet. Vielleicht redet sie deshalb nun so – stets etwas lauter als nötig, stets etwas mehr.

Sie redet von dem roten Kleid mit den vielen Knöpfen, das nicht ihr gehörte. Sie redet von dem Fragezeichen, das jemand hinter ihrem Namen notiert hatte. Und vor allem vom Bohnern im Heim, dieser langsamen, stupiden Bewegung mit dem Besen, flurauf, flurab. Elvira durfte mit acht Jahren vor der Gaskammer in der „Landespflegeanstalt Brandenburg/Havel“, wie die Nationalsozialisten das einstige Zuchthaus umbenannten, umkehren. Das Kleid mit der langen Knopfreihe verschaffte den Ärzten in der „Landespflegeanstalt“ mehr Zeit zum Spekulieren, ob sie Elvira nun endgültig „behandeln“ sollten oder nicht. Auf jeden Fall musste sie dafür nackt sein. Und das ging mit diesem Kleid nicht so schnell. Die anderen Kinder waren längst hinter der Tür verschwunden. Elvira stand noch in dem Raum, vor dem Tisch der Ärzte. Das Fragezeichen stellte ihnen frei, wie mit dem Kind zu verfahren war. Das Bohnern aber war es, was letztlich dafür sorgte, dass Elvira nicht „behandelt“ wurde. Ihre Schwester Lisa war noch zu jung, fünf Jahre, da hat man noch keinen Sinn dafür, sich nützlich zu machen. „Ich habe überlebt, weil ich arbeitswillig war“, sagt Elvira Manthey. Sie betont das „Ich“.

1986 begann das, was Elvira Manthey heute ein Puzzlespiel nennt. 1986 sitzt sie vor dem Fernseher in ihrem Siedlerhäuschen im Lübecker Stadtteil St. Gertrud und sieht im Fernsehen das Zuchthaus Brandenburg, das sie „irgendwie an irgendwas“ erinnert. Das Puzzle begann mit Erich Honecker, den Elvira Manthey anschrieb und um Unterlagen über Lisa, ihre Schwester, bat. Das Puzzle wurde begleitet von einer nervenärztlichen Behandlung, die das lang Verdrängte nötig machte.

Elvira Manthey schrieb also an die Regierung der DDR und die schrieb zurück. Dass ihr nach dem Gesetz keine Akten zustünden. „Da kann man nichts machen, hieß es“, sagt Elvira Manthey. Das sollte sie fortan noch öfter zu hören bekommen.

Etwa im Juni 1990, als sie das Landeskrankenhaus in Uchtspringe aufsucht, in dem sie eingesperrt war, und ihre Akte mitnehmen wollte. Im August 1991, als sie das Ministerium für Arbeit und Soziales in Magdeburg anschreibt. Im Juni 1992 dann den Landtag von Sachsen-Anhalt. Im März 1993 den Justizminister von Sachsen-Anhalt. Im April 1994 die Bundestagspräsidentin. Im März 1997 den Bundesjustizminister der FDP. In den Anträgen stets die Bitte: Rehabilitation, Herausgabe der Akten, wenigstens Umbenennung der Krankenakten in NS-Akten, Nichtigkeitserklärung des Erbgesundheitsgesetzes. In den Antworten stets ein Danke, genauer, ein Nein-Danke, ein freundliches wenigstens: Da kann man nichts machen.

Elvira Hempel saß sieben Jahre im Heim, gilt laut Akte heute noch als erblich geisteskrank, weil ein Arzt sie dafür erklärt hat. Da kann man nichts machen?

Im Wohnzimmer der Computer für die Petitionen, in der Küche die Druckerpresse für das Buch, im Garten das Gemüse zum Leben. Sie tüddelt da zwischen Stangenbohnen und Zwiebelreihen nicht rum, sie schlägt da nicht die Zeit tot, sagt sie und blickt in den Garten der Nachbarn. Blumenrabatten, Obstbäume, alles sehr akkurat dort hinterm Zaun. „Wir leben aus dem Garten“, sagt sie. Vor zehn Jahren erhielt sie 5.000 Mark Entschädigung als NS-Opfer, weil sie nachweisen konnte, dass sie ihrer Freiheit länger als drei Jahre beraubt wurde. Nicht, weil sie für debil erklärt wurde. Zusätzlich gab es seither jeden Monat 150 Mark, seit dem letzten Jahr sogar 180.

Ihr Enkel hatte die Schule geschwänzt. Aus Angst. Da ist sie mit auf den Pausenhof und hat sich die Mitschüler zeigen lassen, die sich ihren Kleinen vorgeknöpft hatten. „Mit denen habe ich so getobt, dass die den nie wieder geärgert haben.“ Ihre Enkel sollten zur Bundeswehr. Da schrieb sie an das Kreiswehrersatzamt, sie sei erblich geisteskrank, da könne man die Enkel doch nicht zum Dienst in der Truppe verpflichten. „Ich habe sie freigekriegt“, sagt sie. Warum muss jemand, der nicht will, dass irgendwo etwas Despektierliches über ihn steht, genau dieses als Waffe nutzen, zum eigenen Vorteil gewissermaßen? Weil keines ihrer Kindeskinder diesen Staat verteidigen soll, solange dieses Gesetz noch existiere, sagt Elvira Manthey. An ihre Kinder kommt ihr keiner ran. An ihre Akten auch nicht, wenn es nach ihr geht. Kein Behördenmensch, kein Historiker. Sie will keine Historie sein, die Akten sind nicht wahr und gehören für unwahr erklärt.

Elvira Manthey sagt: „Sollen sie denken, dass ich bekloppt bin, aber sagen sollen sie es nicht.“ Und schreiben soll es schon gar keiner. Der Staat, sagt sie, muss das Erbgesundheitsgesetz der Nationalsozialisten für nichtig erklären, solle sie rehabilitieren. Erst dann sei ihre Ehre wieder hergestellt. „Wenn ein Kleid alt ist, werfen Sie es weg – Sie legen es nicht in die Schublade.“

Ende dieses Monats gelten die NS-Unrechtsurteile nicht mehr, das hat der Bundestag im Frühjahr beschlossen. Das bedeutet jedoch nichts für Elvira Manthey, denn sie wurde nie vor einem Gericht für geisteskrank erklärt, in ihrem Falle genügte ein Aktenvermerk und eine Verfügung auf Antrag eines Oberbürgermeisters. Den Verwaltungsakt für Unrecht erklären? Den Vermerk eines Arztes tilgen? Ein Gesetz, das den geistigen Raum schuf für solche Vermerke, für nichtig erklären?

Da kann man nichts machen.

Der Bundestag nicht, weil er ein Gesetz zwar aufheben darf, aber nicht für nichtig erklären kann. Das Bundesverfassungsgericht, weil es ein Gesetz zwar für nichtig erklären kann, aber nicht, wenn es nicht mehr gültig ist. Das aber ist das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933“ seit der Besatzung Deutschlands durch die Alliierten nicht mehr. Nicht gültig, aber nicht nichtig. Das ist juristische Arithmetik und am Ende der Rechnung widerfährt nicht immer allen Recht.

In Berlin fuhr sie Taxi. In Timmendorf am Strand verkaufte sie Eis. In ihrer Waschküche riss sie den Putz von den Wänden, als diese isoliert werden musste. Elvira Manthey weiß sich zu helfen. „Ich will das verfilmt haben“, sagt sie. So wie Schindlers Liste. Dann würde Deutschland aufmerksam auf ihr Schicksal, dann würde sich etwas bewegen. Das Buch, der Dokumentarfilm, das Theaterstück, die Demonstrationen gegen den Psychiatriekongress, wie erst vor zwei Tagen, der jährliche Marsch für die Opfer der Euthanasie, die Vorträge in Schulen – das alles hat bislang lediglich dazu geführt, dass Elvira Manthey im Sommer nur noch mehr in ihrem Garten arbeitet.

Einmal hatte Elvira Manthey einen Anwalt eingeschaltet. Der sollte erreichen, dass das Landeskrankenhaus Uchtspringe ihre Akte herausgibt. Der Mann erreichte mit dem Land Sachsen-Anhalt einen Vergleich, einen guten, wie er meinte. Elvira Manthey hätte ihren Namen in der Akte tilgen, dem Dossier ein Gutachten beifügen dürfen, das sie für gesund erklärt. Mitnehmen hätte sie ihre Akte nicht dürfen, die sei schließlich Forschungsmaterial. Aber die Petentin wollte nicht, beharrte auf ihren Forderungen, sah durch die Archivierung der Akte ihre Persönlichkeitsrechte nicht ausreichend gesichert.

Im Februar diktierte Elvira Manthey einmal mehr ihrem Mann eine Petition. Diesmal an die sozialdemokratische Justizministerin in Bonn. Im April kam die Antwort: Man werde sich bemühen ... es sei der Ministerin ein persönliches Anliegen ... man habe Verständnis ... aber die Aufhebungsregelung bei den Urteilen dürfte nicht übertragbar sein auf Verwaltungsakte. Da kann man nichts machen?

Eine Weile ist das wohl schon her. Da kam dieser Filmer. 27.000 Mark hat der geboten für die Geschichte. Wäre nicht nötig gewesen, sie hätte das auch umsonst gemacht, ums Geld geht es ihr schließlich nicht. Aber der wollte die Rechte. Und das wollte sie nicht. „Ich will auch nichts verschenken, ich habe Kinder, und wenn eine müde Mark daran zu verdienen ist, dann kann ich das auch“, sagt sie. Rechte abtreten? Die nun gerade nicht.

„Sollen sie denken, dass ich bekloppt bin. Aber sagen sollen sie es nicht.“ Und schreiben soll es schon gar keiner.