Himmel und Hölle auf Hawaii

Wie Amerika die Jahrhundertfinsternis seiner Sonne beging: Ein Mega-Event der Superlative, die Vereinigung von Sonne und Mond als kosmische Orgie – Wolken konnte es da nicht geben. Ein Bericht  ■   von Stefan Schomann

Es war, als stünde Amerika ein zweites Pearl Harbour ins Haus – doch diesmal war die Nation auf dem Posten. Neben den regulären amerikanischen Truppen waren auch tausende von Freiwilligen aus aller Welt auf Hawaii stationiert. Am Morgen des 10. Juli 1991, dem Tag der Generalprobe, sah man sie überall an den strategisch wichtigen Stellen auf Big Island ihre Geschütze nach Osten ausrichten. Noch lachte die Sonne.

Ein Jahrhundertereignis stand bevor. Es versteht sich, dass hier über amerikanischem Boden kein x-beliebiges Spektakel, sondern der Superlativ eines Superlativs stattfinden würde, eine 150-prozentige Sonnenfinsternis. Die schwärzeste und beinah längste seit Menschengedenken. Sie vollzog sich unter maßgeblicher amerikanischer Beteiligung – nicht umsonst hatte man den Mond damals als 51. Bundesstaat eingemeindet.

Eine nationale Angelegenheit also, die entsprechend vereinnahmt und vermarktet wurde. Nachtschwarze Merchandising-Artikel vom Surfbrett bis zur Sammeltasse füllten die Boutiquen. Jede kleinste Trophäe war begehrt. Denn eine derart seltene Show miterlebt zu haben, once in a lifetime, das zählte was. Man hatte Teil an etwas ganz Großem. Nur der Anblick eines Atompilzes besäße einen noch höheren Schau- und Seltenheitswert.

Schon im Flugzeug waren diese stillen Männer mit den glänzenden Augen nicht zu übersehen gewesen. Andächtig hielten sie dicke Röhren zwischen den Beinen oder hatten sie über die Knie gelegt wie Großwildjäger die Doppelbüchse. Manche hatten nebenbei noch ihre Ehefrauen mit. Die ersten waren schon vor Wochen angereist, andere kamen last minute mit Sondermaschinen aus dem fünf Stunden entfernten Kalifornien, wieder andere gingen zu hunderten von Bord der Kreuzfahrtschiffe. Entlang der schwarzen Strände, am kahlen Kraterrand des Kilauea, auf den Golfplätzen und in den japanischen Gärten, überall strichen sie herum. Justierten ihre Instrumente, linsten durch die Okulare und tüftelten Beobachtungsstrategien aus. Vom Billigteleskop, abfällig Rasierspiegel genannt, bis zur Ein-Mann-Sternwarte, von blockflötengroßen Taschenspektiven bis zu furchterregenden Haubitzen war jedes Kaliber vertreten. Auch die Teleobjektive vor den Kameras waren bis zu einem Meter lang, einige brauchten zwei Stative.

Viele der Amateur-Astronomen kannten einander von früheren Expeditionen; es gibt eine Internationale der Himmelsfetischisten. Ob sie nun aus Yokohama oder aus Uppsala kamen, aus Toronto oder Turin, ob als scheue Einzelgänger oder im unermüdlich fachsimpelnden Verein – alle einte das gleiche Hochgefühl. Sie hatten auf dieses Ereignis gespart und ihm über Jahre hin entgegengefiebert. Morgen würden sie die glücklichsten Menschen unter der Sonne sein.

Aus den Strandcafés an der Kohala Coast drang, in Endlosschleife, das Schlusslied des Pink Floyd Klassikers The Dark Side of the Moon: „All that you touch, all that you see, all that you feel“ etc. „and everything under the sun is in tune – but the sun is eclipsed by the moon“. Wohlfeile Ratschläge machten die Runde. „Stellen sie die Entfernung auf unendlich“, hieß es in einer Fotofibel. „Happy observing!“, tönte es überall. Im Fernsehen liefen Animationsfilme nonstop. Erst kullerte der Mond zwischen Sonne und Erde, dann wurde gewechselt und die Erde begab sich in die Mitte.

Erregung überkam die Insel. Eine kosmische Orgie stand bevor, der Mond würde die Sonne vernaschen und den Tag zur Nacht machen. First Contact, der erste Happen, war für halb sieben avisiert, bis zur totalen Vereinigung würde eine volle Stunde vergehen. Der Heiligenschein der Korona und gewaltige Protuberanzen würden sichtbar, aber auch Cassiopeia und das Siebengestirn.

Das ganze Spektakel fand wie bestellt genau über dem Observatorium auf dem Mauna Kea statt, dem größten Sternwartenkomplex der Welt. Wie eine Kolonie von Riesenbovisten stehen die Kuppeln dort in 4.200 Meter Höhe. Vorsichtshalber war die Zufahrtsstraße gesperrt worden, sonst hätte alle Welt zum Gipfel gedrängt. Auch viele Bewohner der anderen Inseln waren nach Big Island gekommen. Denn oben in Honolulu würde die Sonne nur zu 95 und selbst auf Maui nur zu 99 Prozent verdeckt. Es würde etwas schummrig werden, mehr aber nicht, diese paar Prozent Sonnenschein verdarben alles. Auf Big Island dagegen gab es außer der totalen Finsternis noch die mächtigen, rastlos tätigen Vulkane, so dass sich die Gelegenheit bot, den Himmel verlöschen und zugleich den Auswurf der Hölle glühen zu sehen – ein zweifaches Inferno.

Eigentlich kommen die Touristen ganzjährig der Gestirne wegen nach Hawaii. Die meisten suchen die Sonne, die hier noch freigebiger scheint als selbst in Kalifornien. Aber auf der dünn besiedelten Hauptinsel zählen auch die Sterne zu den Sehenswürdigkeiten, weil die Lichtkontamination gering und der Himmel daher sternhagelvoll ist. Das war er auch am Vorabend der Finsternis, ein zweiter, nachtblauer Ozean voll funkelnder Archipele. Man ging früh und voller Vorfreude zu Bett.

Am nächsten Morgen fand Hawaii sich zu einer Insel der Unglückseligen verwandelt. Eine Katastrophe war geschehen: der Himmel hatte sich eine dicke, schmutzig weiße Wolkendecke übergezogen. Hatte aus Gründen der Diskretion einen Schleier über die Szene gehängt, um die Gestirne vor der Schaulust der Erdlinge zu bewahren. Kleinlaut bis verzweifelt standen die Menschen am Strand herum. Die Fernrohre waren zu nichts zu gebrauchen. Statt des verheißungsvollen Sonnenaufgangs kurz vor sechs dämmerte es nur gräulich. Oder war das schon die Finsternis? Die Natur erwachte wie gewohnt: die Vögel zwitscherten und segelten aus ihren Schlafbäumen herab, um im Gras nach Futter zu picken. Die Bienen schwärmten über die Orchideengärten und Hibiskussträucher aus, deren Blüten sich allmählich entfalteten.

Halb sieben – First Contact. Wir blickten nach Osten, blickten hoch in die Wolken, blickten im Kreis herum – doch nichts geschah. Eine Dreiviertelstunde lang blieb alles unverändert, es wurde allenfalls nicht heller. Fünf vor halb acht vielleicht blinzelten die ersten – war es nicht eben schattiger geworden?

Dann ging alles rasend schnell. Als hätte der himmlische Projektionist an einem Dimmer gedreht, soff das Licht ab und schlug in ägyptische Finsternis um. Sie war zwar nicht stockdunkel, eher von gedecktem Schiefergrau, aber auf gespenstische Weise finsterer als noch das tiefste Schwarz. Eine fahle, verwaschene, leicht metallische Dunkelheit, die alles umfing. Da der eigentliche Akt unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, richtete sich das Augenmerk auf die Begleiterscheinungen. Die Vögel verstummten jäh und zogen sich wieder auf die Bäume zurück. Die Blüten schlossen sich hastig und die Insekten schienen wie vom Erdboden verschluckt. Die Stille war nicht von dieser Welt.

Wenn sich bei einem Gewitter der Himmel verdunkelt, staut und verschärft sich die Lage, die Atmosphäre lädt sich elektrostatisch auf, bis das Donnerwetter schließlich befreiend losbricht. Die Sonnenfinsternis dagegen zog Energie aus der Welt ab. Licht und Lebenskräfte entwichen, und etwas wie eine Lähmung, eine tiefe Depression legte sich über das Land. Das Getriebe der Welt setzte aus, ein kosmisches Koma trat ein. Was geschah, war sachte unheimlich, löste aber keine Panik aus, vielmehr namenloses Staunen. Kein Gefühl der Apokalypse, ein friedlicherer Tag ließ sich kaum denken.

Für ein paar Stunden war die Insel ohne Lärm und ohne Verkehr, und die Menschen wandten sich einander freundlich zu. Es war kein Weltuntergang, sondern ein Wunder. Wie lange es dauerte, wusste ich nicht zu sagen. Auch die innere Uhr blieb stehen – eine Minute, eine Stunde, das schienen untaugliche Kategorien. Die amtliche Version lautete, dass es 4 Minuten 12 Sekunden dauerte. Irgendwann wurde es wieder hell, aber im Gedächtnis blieb jene von Finsternis erfüllte Auszeit.

Hinterher lief die ganze Show rückwärts. Mit Schwung wurde der Dimmer wieder angedreht. Die Vögel flatterten abermals herab und trippelten über den Rasen, als wäre nichts geschehen. Die Bienen summten wieder, und die Blüten boten sich ihnen dar. Dass die Natur so prompt und ohne Widerrede gehorchte, ließ an ihrem Verstand zweifeln. Aber auch die Menschen sahen verwirrt aus. Sie standen verloren herum, Nachtwandler in Bermudas, die man zur Unzeit geweckt hatte. Viele hatten längst kehrt gemacht oder waren nach einem Blick aus dem Fenster gar nicht erst vors Hotel gegangen, sondern hatten gleich den Fernseher angeknipst. Dort wurde das Ereignis live vom Observatorium aus übertragen, hoch über den Wolken. Auch Honolulu war zugeschaltet, wo ebenfalls die Sonne schien. Die dort geblieben waren, sahen nur 95 Prozent, aber die wenigstens unzensiert. Noch Stunden später brachten die Sender landesweit nichts anderes als die Sonnenfinsternis, die sie nach Kräften zerredeten und zerhackten.

Das „Eclipse Breakfast“ im Hotel geriet dann zum kollektiven Katerfrühstück. Die Amerikaner sprachen ihm wortreich und erbittert zu. Yokohama und Uppsala verhielten sich schweigsamer, dachten wohl ans liebe Geld und wandten sich wieder ihren Ehefrauen zu. Irgendwann schlichen sie hinaus in den trüben Tag. Zum Abschied verabredeten sie sich für 1994 in Bolivien oder, falls das nicht klappen sollte, dann eben in Süddeutschland. Gegen Mittag klarte der Himmel auf.