Zwischen den Rillen
: Rauschen im Ohr

■ Karg: Die CD-Reihe „20‘ to 2000“ birgt Minimal Techno fürs Millennium-Ende

Wider alle Erwartungen wird dieses Jahrtausend sehr ruhig zu Ende gehen. Die letzten Minuten werden sich nicht zu einem hysterischen Crescendo auswachsen, sondern sie werden vergehen in stiller Atmosphäre, vielleicht gar andächtiger Stimmung. Nirgends in der eigenen Seele auch nur ein Quentchen Millennium-Angst. So klingt zumindest die Version der letzten zwanzig Minuten dieses Jahrtausends von Coh, einem russischen Produzenten elektronischer Musik.

Warum gerade die letzten zwanzig Minuten? Carsten Nicolai, Künstler und Musiker aus Chemnitz, hat einige Produzenten um ihre musikalischen Versionen gerade dieser bestimmten Zeitspanne gebeten. Entstanden ist so die CD-Reihe „20‘ to 2000“. Jeden Monat dieses Jahres erscheint eine CD in einer transluzenten, muschelförmigen Verpackung. Und wenn man eine Muschel ans Ohr hält, hört man stets ein beeindruckend lautes Rauschen, das man als Kind für das dort drin irgendwie gespeicherte Meeresrauschen gehalten hat. Dabei ist es nur ein akustisch raffinierter Mix aus Wind, Wellen und dem Widerhall des im Körperinneren rauschenden Blutstroms.

Coh ist bislang derjenige, der dieses durch das Verpackungsdesign suggerierte Motiv am deutlichsten aufnimmt. In seinen zwanzigminütigen Epos kann man gespannt hineinlauschen und verfolgen, wie er sich unmerklich verändert, die Klänge vor und zurück schwappen und sich irgendwann mal für eine kurze Weile zu einem technoiden Track entwickeln, mit richtigen Beats und so.

Coh hat die zwanzig Minuten mit einem Track gefüllt. Ganz anders dagegen Ryoji Ikeda: Der Japaner lässt das Pendel ins andere Extrem ausschlagen und hat so die technisch gerade noch mögliche Anzahl von 99 Stücken ins Plastik gebrannt. Die kann man sich natürlich durchgehend anhören und derart sogar so etwas wie Dramaturgie feststellen – intendiert ist aber wohl eher der Einsatz der Zufallsfunktion des CD-Players. Bei Ikeda sind also die Würfel über den endgültigen Klang der finalen zwanzig Minuten des zwanzigsten Jahrhunderts noch nicht gefallen.

Die acht Stücke von Ilpo Väisänen (erschienen im Februar), einer Hälfte des finnischen Duos Pan Sonic, wirken auf ihre Weise genauso offen, wie es der eher konzeptuelle Zugriff Ikedas auf seine tut. Hochfrequentiges wechselt in ihnen abrupt mit heftig verzerrten Sounds, dann läuft ein mit leichtem Hall versehenener Rhythmus einige Minuten geradeaus, bevor alles in einem Grummeln oder purem Noise versinkt.

Die bislang aktuellste CD dieser Reihe kommt aus Köln, von Ester Brinkmann. Unter diesem Namen bringt Thomas Brinkmann CDs heraus. Zuletzt hat er einige O-Töne des Philosophen E. M. Cioran mit seiner Musik kombiniert. Für die „twelve releases about the cutting edge of the millennium“, so der offizielle Untertitel der CD-Reihe, hat er erneut mit „Fremdmaterial“ gearbeitet. Über dem nicht zu schnell marschierenden Track, der einem über die zwanzig Minuten durchaus in Hypnose versetzen kann, hört man plötzlich Vogelzirpen und eine Mädchenstimme von Garten, Bäumen und einem Leichnam flüstern. Ganz am Ende dann Glockenspiel, Regen und Gewitter. Brinkmann lässt das Jahrtausend also mit einem nicht ganz so positiven Ausblick enden, sein Loop sagt immerhin: Alles wird wie gehabt weitergehen.

Musikalisch zeichnet sich die Reihe „20‘ to 2000“ durch Beschränkung aus, das wird sich auch durch die noch ausstehenden hundert Minuten bis Jahresende nicht ändern. Die Sounds verweigern sich jeder Opulenz, sie scheinen elektronisch bis auf ihr Skelett reduziert zu sein; falls sie eine stärkere Präsenz erlangen, dann eher als Störgeräusch, digitales Rauschen. Die Beats haben wenig mit denen zu tun, die in den Techno-Clubs zum Tanzen animieren – auch sie bestechen durch Kargheit, die Betonung des Viervierteltakts kann ja auch durch ein gelooptes Knistern erzeugt werden. Und wenn mal ein Bass autaucht, dann nicht als animierender Hook, sondern als durch den Raum fliegendes Klangphänomen, das die Membranen und Hosenbeine flattern lässt.

Was sich im Clubkontext als Minimal Techno schon durchgesetzt hat und in den vergangenen Jahren breit rezipiert wurde, das hat sich an den Rändern inzwischen zu einem ganz neuen Genre ausgewachsen, das durch die Veröffentlichungen in der Zwanzigminutenserie recht gut repräsentiert wird und durch eine neue Compilation noch besser handhabbar geworden ist. Sie trägt zudem den treffenden, inzwischen zum Flügelwort gewordenen Titel „Microscopic Sound“.

Einige der „20‘ to 2000“-Produzenten sind auch hier vertreten (Ikeda, Brinkmann, Noto). Vielleicht liegt es am besonderen Blickwinkel, mit dem man von New York aus, wo die Platte zusammengestellt wurde, auf die Szene blickt, dass die Auswahl nicht so streng und stringent ausgefallen ist, wie es ein Label hierzulande wahrscheinlich unternommen hätte.

So passt hier der hippieske Westcoast-Ambient eines Kim Cascone genauso drauf wie der gar nicht so mikroskopische Techno von Sound Track.

Nichtsdestotrotz: Wenn sich in diesem Jahrtausend alle so zurückhaltend benommen hätten wie die Musiker auf diesen Platten, dann könnte man freudiger zurückblicken. Mit ihnen also in die neue Zeit. Martin Pesch

Diverse: „20‘ to 2000“ (Noton); Abo-Info unter: www.rastermusic.com Diverse: „Microscopic Sound“ (Caipirinha/Zomba)