■ Der Kosovo-Krieg und die Folgen (4): Im Prinzip war die Nato-Intervention richtig. Was sie bedeutet, ist freilich kaum abzusehen
: Landschaft nach der Schlacht

Tag für Tag überschwemmt uns die Presse mit statistischen Angaben zur Veranschaulichung der Zerstörungen im Kosovo und in Serbien. Aus der Népszabadság vom 24. Juli erfahre ich, daß nach Schätzungen des UNO-Flüchtlingskommissariats im Kosovo 40 Prozent der Trinkwasserbestände kontaminiert, 64 Prozent der Wohnhäuser ruiniert, 88 Prozent der Gemeinden ohne Gesundheitsversorgung und 40 bis 50 Prozent der Schulen zerstört sind. Über die Toten gibt es vorerst keine Statistiken, viele Massengräber sind noch nicht geöffnet.

Ein Freund von mir, der das Kosovo als Berichterstatter bereiste, machte die Erfahrung, daß die Serben in jeder Ortschaft einige oder mehrere Bewohner massakrierten, worauf die am Leben Gebliebenen – fast eine Million Menschen – flohen. 300.000 noch vor Beginn der Bombardierungen.

Ich merke das an, weil es Intellektuelle gibt, die selbst jetzt, wo die Ausmaße der Vernichtung sichtbar werden, das bewaffnete Einschreiten der Nato verurteilen. „Miloševic und Clinton sind gleichermaßen Kriegsverbrecher!“ schrie die ausgezeichnete Soziologin ins Telefon, und ich fragte sie nicht, ob sie auch Churchill und Truman wegen der Bombardierung von Dresden und Hiroshima in dieselbe Kategorie einordnet wie die Nazi-Führer. György Konrád wiederum ist sich sicher, daß ohne die Einmischung der Nato weniger Menschen gestorben wären. Woher will er das wissen? Wie viele starben in den vergangenen Jahren auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien, weil das Eingreifen des Westens ausblieb oder sich als memmenhaft erwies? Und wie viele werden noch in Montenegro und anderswo sterben, falls Miloševic weiterregiert? Und wieviel hunderttausend Albaner mehr als die anfänglichen 300.000 hätten die Serben „friedlich“ vertreiben müssen, damit auch die humansten Seelen ein bewaffnetes Eingreifen für begründet erachtet hätten?

Das moralische Hauptdilemma der Kosovo-Frage formulierte Joschka Fischer mit der für ihn typischen Luzidität: „Für mich gibt es zwei Konsequenzen aus der deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts: Nie wieder Krieg! Und: Nie wieder Auschwitz!“

Diese doppelte Forderung geht über die deutschen Lehren hinaus, und von 1945 bis in die jüngste Zeit bildete sie den Grundpfeiler eines jeglichen humanistischen Denkens. Die erste Forderung zu beherzigen, war übrigens bis zum Zerfall der Sowjetunion für jeden ratsam. Das Alptraumbild des Atomkriegs überstieg den Ekel vor den Menschenrechtsverletzungen. Nach dem Wegfall des militärischen Gleichgewichts wurde jedoch offenbar, daß man bisweilen zwischen den beiden Forderungen wählen muß. Diese Einsicht hatte anfangs keine praktischen Konsequenzen, weil das System des Völkerrechts nicht im Einklang mit den politisch-militärischen Kräfteverhältnissen transformiert worden war. Die ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrates behielten ihr Vetorecht, womit das Kriegsverbot das Genozidverbot weiterhin im Keim erstickte. Der jeweilige Volksausrotter vom Dienst gehörte nämlich meist in die Interessensphäre irgendeines ständigen Mitglieds des Sicherheitsrates und konnte eben deshalb mit dem Veto seines Patrons rechnen.

Ich riskiere die These, daß die Nato-Bombenangriffe, vom UNO-Sicherheitsrat nicht autorisiert, in den Köpfen größere Verwüstungen anrichteten als, sagen wir, im Verkehrsnetz Serbiens. Die in der Linken verwurzelte Nato-Gegnerschaft und der von konkreten historischen Situationen längst abgelöste pazifistische Reflex ließen zahlreiche ehrliche Demokraten unter dem Banner von Willkürherrschaft und nationalistischen Völkermord antreten. Andere applaudierten den Bombardements und begrüßten die kontraproduktiven und inhumanen strategischen Entscheidungen der Nato kritiklos. Den Grad der Verwüstung veranschaulicht stets der Zustand der hervorragendsten Köpfe. Im taz-Interview bestritt Joschka Fischer, daß die Nato ohne Ermächtigung der UNO gehandelt hätte, ja, er behauptete sogar, ohne die Absicht zu scherzen: „Heute sind die Vereinten Nationen und ihr Sicherheitsrat stärker denn je.“ Das Geschehene erkärte er so: „Es war eine Notsituation, die zu einer Notlösung führte.“

Doch gerade davon ist die Rede: Notsituationen gab es auch früher. Auch ich erlebte eine solche, hier, in Europa, zur Zeit der Niederwerfung der ungarischen Revolution. Nur daß früher, infolge des Atom-Patts, die UNO und der Weltsicherheitsrat so stark waren, daß kein einziges Bündnis selbst in Notsituationen Notlösungen zu riskieren vermocht hätte.

Wenn Fischer zu einem solchen Tiefflug ansetzt, dann zwingt ihn entweder seine Rolle als Außenminister dazu, oder der Blickwinkel seiner Position gewährt ihm nicht genügend geistigen Nährstoff. Ich würde es bedauern, wenn letzteres wahr wäre, denn jetzt bedarf es wirklich origineller Geister. Der Luftkrieg bugsierte uns nämlich mit der Zerbombung des UNO-Status mitten hinein in funkelnagelneue moralische Dilemmata. Nicht nur das UNO-Gewaltmonopol ist gefallen, auch derKonsens, der die nationale Souveränität über die Menschenrechte stellte, ist dahin. Zum ersten Mal in der Geschichte bombardierte man, unter Verletzung der Souveränität eines Staates, zwecks Durchsetzung der Menschenrechte. Das „Menschliche“ obsiegte also über das „Nationale“ – so triumphiert die in Wirtschaft und Kultur im Vormarsch befindliche Globalisierung auch auf militärisch-politischem Terrain.

Das ist ein großer Schritt nach vorn. Doch wie sehr ich es möchte, ich kann mich darüber nicht vorbehaltlos freuen. Einerseits wurde der menschenrechtliche Zweck mit Hilfe einer militärischen Philosophie erreicht, die mit dem Respekt vor den Menschenrechten nicht vereinbar ist. Die Kriegsführung der Nato bekannte sich zu dem Standpunkt, daß lieber tausend Serben oder Albaner sterben mögen als ein einziger Nato-Soldat. Ich erkenne an, daß diese Entscheidung vom Gesichtspunkt der Nato-Länder innenpolitisch mehr als ratsam war, moralisch läßt sie sich jedoch nicht rechtfertigen, weil die Angreifer ihr eigenes Risiko nicht so sehr auf die Schuldigen als vielmehr auf die serbischen Zivilisten und insbesondere auf jene abwälzten, die sie zu schützen trachteten.

Noch beunruhigender ist, daß das Prinzip des „Menschlichen“ nur auf selektive Weise über das des „Nationalen“ triumphieren darf. Die halbe Welt würde in Flammen stehen, wenn wir jedes Land bombardierten, in dem die Menschenrechte systematisch verletzt werden. So bleiben verständlicherweise jene von einem militärischen Eingreifen verschont, die zur Interessensphäre der Nato gehören, und auch jene, die Atomwaffen besitzen, und noch jene, die zu arm und rückständig sind, als daß man sie für voll nehmen müßte. Doch wenn wir uns im Falle welcher kriegerischen Konflikte auch immer mit einem makellosen Gewissen auf die Menschenrechte berufen wollen, dann müssen wir klare Kriterien dafür finden, wann der „menschliche“ Standpunkt über den „nationalstaatlichen“ zu stellen ist.

Joschka Fischer antwortet auf diese Frage, daß das Kosovo in unserer Nachbarschaft liege und Europas Sicherheit in Gefahr war. „Wir sind doch kein Weltpolizist!“ sagt er. Aus der Melodieführung klingt die Weise von 1968 heraus. Der Weltpolizist ist böse. Doch der Polizist Europas? Demnach müßte auch er etwas Schlimmes sein. Trotzdem ist er gut, denn in Serbien und Kosovo verfuhr er richtig. Die globale Perspektive der Menschenrechte verengt sich in der Interpretation Fischers auf diesem neuen militärisch-politischen Terrain auf eine europäische.

Dennoch glaube ich: Die Nato tat etwas Bedeutenderes, als sie selbst dachte, als sie deklarierte, daß der Mensch, als Bürger welchen Staates auch immer, konstitutives Element des internationalen Rechts ist. Die Landschaft nach der Schlacht in unseren Köpfen ist deshalb so wüst, weil wir die Konsequenzen dieses ersten Schrittes nicht ermessen können. Welche Interessen werden künftig darüber entscheiden, unter welchen Bedingungen dieser Erkenntnis praktische Schritte folgen können? Können wir langfristig erreichen, daß die Miloševic' – und Pinochets – in wessen Machtsphäre auch immer ihre unmenschlichen Rechte gefährdet sehen? Ungeheure Optionen tun sich auf – man bekommt richtiggehend Lust dazu, sich darüber, frei von eingesogenen Dogmen und Phrasen, den Kopf zu zerbrechen. István Eörsi

Aus dem Ungarischen von Gregor Mayer

Die Nato-Bomben haben in den Köpfen Verwüstungen an- gerichtetIn der Linken gibt es von konkreten Situationen abgelöste pazifistische Reflexe