Dandy sucht Anschluß

Mehr Dialog wagen! Green Gartside alias Scritti Politti, der letzte Schmuck-Eremit des Pop, hat ihn gesucht und gefunden. Denn die Welt ist voller Stimmen  ■   Von Thomas Groß

Plötzlich sind die Symptome wieder da, dieses präkognitive Kribbeln, diese unruhige Objekterwartung, dieses Die-mußt-du-haben-Gefühl, selten geworden im Stand des Zugeschissenseins mit Produkten der phonographischen Industrie und psychologisch gesehen ein konservativer Impuls: Wiedersehensfreude. Green Gartside hat eine neue Platte gemacht. Sie heißt „Anomie & Bonhomie“. Elf Jahre hat er dafür gebraucht.

Elf Jahre, das ist Rekord unter den Weggewesenen und Wiedergekommenen, länger als die langen neunziger Jahre, genug Zeit, um erwachsen zu werden oder komplett durchzudrehen oder das Blatt noch einmal ganz anders zu wenden. Gartside alias Scritti Politti trägt jetzt einen Georges-Perec-Bart, der wenig von der elegant-androgynen Figur erahnen läßt, mit der er einst Jacques Derrida popkompatibel machte. Sie erinnern sich: Zitat-Pop, das große Ding der achtziger Jahre, der linguistic turn der Popkultur, als die Erkenntnis sich durchsetzte, daß auch Lieblingsmusiken nicht auf den Bäumen wachsen oder einfach so aus dem Bauch kommen, sondern Kunstprodukte sind, Texte, die gelesen werden können (oder geschrieben), zugleich die Geburtsstunde eines Endlospalavers über Style, Glamour und rhizomatische Bücher.

Das Dumme nämlich: Wer damals schlau war, trägt seine eigene Schlauheit heute als Hypothek mit sich herum, Styleploitation is in the house. Daß gerade der, nennen wir es: Blue-Eyed Soul Electro Pop, den Scritti Politti mitformuliert haben, mittlerweile zu den ausgeglühtesten musikalischen Materien gehört, seine Soundsprache bis in die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten hinein durchbuchstabiert ist – dieses Problem muß Gartside in seinem walisischen Exil beschäftigt und auch gequält haben. Dandy sucht Anschluß.

Gefunden hat er ihn zunächst auf dem ältesten aller erdenklichen Kommunikationswege: Mehr Dialog wagen! „Anomie & Bonhomie“ funktioniert über weite Strecken als Zwiesprache mit einem musikalisch Anderen. Nicht Gartside, sondern Rapper Mos Def gehört das erste Wort, und er betritt die Szenerie als Mann der Argumente, der unüberhörbar den Jam einfordert.

Überhaupt ist das Studio groß und die Welt voller Stimmen. Auch Songpoetin Me' Shell Ndegéocello ist mit drin im Mix, die perfekte Inkarnation des „Word Girl“, das Gartside in einem alten Hit besungen hat. Einmal in Bewegung versetzt, fechten all diese Vokalisten „this little ditty with the Scritti“ aus, reden auf ihr Gegenüber ein, als müßten sie einen älteren Anarchisten, der Gramsci noch persönlich gekannt hat, von der Notwendigkeit neuerer Körperpolitiken überzeugen.

„Anomie & Bonhomie“ ist ein Versuch, sich an zeitgenössischen Modellen eben jenes schwarzen Sounds zu energetisieren, der den Briten Gartside schon immer beschäftigt hat, und entsprechend bereitwillig läßt er sich von seinem eigenen Arrangement auf die Tanzfläche zerren. Daß trotzdem kein schlichter Anbiederungsversuch vorliegt, hat mit dem gebotenen Respekt für die Gäste zu tun, aber auch mit einem offensiven Verzicht auf Hipness. Diese Platte will sich nicht gewaltsam noch einmal zum Glitzern bringen, sie will einfach nur reden dürfen, die Übercodierung des Klangstroms durchbrechen, indem sie sich in ihn hineinbegibt.

Seltsame Legierungen sind das Ergebnis, stark irisierende Verbindungen, als hätte Gartside ein neuartiges Verfahren zur Wiederaufbereitung von Designerschrott erfunden. Balladen wie „First Goodbye“ und reggaeartige Leichtigkeiten wie „Mystic Handyman“ klingen auf eine unwirkliche Art „originell“, weil keine Angst spürbar ist, mit den verwendeten Stoffen in Berührung zu kommen, cromarganartigem, superdurchgeschnulztem Edelgitarrenkunstfuzz, verschmolzenen Hispanismen, britisch eingefärbter Karibik. Kalifornisch goldener, hollywoodesker kann der Sonnenuntergang beim Autofahren nicht zelebriert werden als in „Brushed With Oil, Dusted With Powder“: Bacharach-Sentiment, imaginärer Cabrio-Pop des Vorkatalysatorzeitalters, passend zu keinem Golf. Und über allem diese dreifach gedubte, silberhelle, heliumleichte Stimme, das Phantom eines Popsängers. Gartside zitiert sozusagen Zitat-Pop. Es ist ein Niveau von Künstlichkeit, auf dem man dann wieder reden darf, wie einem der Style gewachsen ist.

Überraschenderweise erinnert das – von Prefab Sprout einmal abgesehen – an nichts, was andere Altachtziger-Genossen heute so treiben, man denkt eher an einen Mann wie Bob Dylan. So wie dieser durch die Archive der Folk- und Bluesgeschichte irrt, allegorisiert Gartside Soul und Britpop. Zweifel am eigenen Verstand sind dabei inbegriffen. „The World You Understand (Is Over & Over & Over)“ heißt nicht der beste, aber der aphorismusähnlichste Track-Titel des Albums: Welt-nicht-Verstehen ist nicht schön. Aber wenn Verständnis am Ende ist, geht Neugier wieder los.

Scritti Politti: „Anomie & Bonhomie“ (Virgin)

Diese Platte will sich nicht mit aller Gewalt zum Glitzern bringen, sie will einfach nur reden dürfen