Der König ist tot, es lebe der König

Marokkanische Paradoxien nach dem plötzlichen Königstod: Unter dem verstorbenen Monarchen Hassan II. war alles bestens. Aber unter dem jungen Nachfolger Mohammed VI. soll trotzdem alles besser werden    ■ Aus Rabat Reiner Wandler

Die Edelstahlkugeln haben sie zu Hause gelassen. „Wir werden eine Woche lang nicht spielen“, sagt Zouane. Der 40jährige Sportlehrer ist Vorsitzender des Boule-Clubs in Aviation, einem Stadtteil der marokkanischen Hauptstadt Rabat oben am Berg, drei Kilometer außerhalb. „Wir haben diese Entscheidung aus Trauer um den Tod von König Hassan II. getroffen“, sagt er. Seine drei Freunde stimmen zu.

Auch ohne Spiel – zu Hause bei der Familie hielt es die vier am Sonntag nicht. „Wir saßen den ganzen Nachmittag vor dem Fernseher und haben die Beerdigungszeremonie verfolgt“, sagt der 40jährige Mohid, Lastwagenfahrer und einst Immigrant im schwäbischen Kornwestheim. Dann drängte es sie einfach hinaus auf den Place Mabella. Hier, an der größten Straßenkreuzung ihres Viertels, haben sie ihren Boule-Platz hergerichtet. Aber statt schweigend wie sonst jeden Abend die kleine rote Kugel ins Visier zu nehmen, sitzen die vier auf dem Mäuerchen, das die Sandpiste umgibt, und reden.

„Hassan II. war für uns wie ein Vater“, sagt Zouana. Ob gütig oder streng, sei nicht die Frage: „Das habt ihr Europäer nie kapiert. Das hier war Dritte Welt, und hier gelten andere Regeln.“ Der Eisenbahner Bararha stimmt ihm zu: „Ein arabisches Sprichwort lautet: Sei hart, aber nicht so, daß du brichst. Sei weich, aber nicht so, daß du dich verformen läßt.“ Hassan II. sei genau diesem Gebot gefolgt.

Kritik am Monarchen läßt keiner zu. Analphabetentum? Emigration? Arbeitslosigkeit? „Habt ihr in Europa etwa keine sozialen Probleme?“, kontert Zouane. „Das ist doch nicht die Schuld von Hassan II. Das ist die Folge der Globalisierung.“ Bararha pflichet ihm bei: „Hassan II. hat viel für Marokko getan. Mit ihm ist ein Teil von uns gestorben.“

Hassan II. hütet die Nation selbst über seinen Tod hinaus. „Er hat den Weg zur Demokratie vorgegeben, sein Sohn wird ihn weiterbeschreiten“, sagt Zouane. Besser oder schlechter? „Anders!“ lautet die Antwort des Vierten im Bunde, Grundschullehrer Hassan. „Mohammed VI. ist jung und deshalb moderner, offener.“

Die vier Boule-Kompagnons wählten bei den letzten Wahlen 1997 die Union der Sozialistischen Volkskräfte (USFP), wie die meisten hier oben in den halbwegs geräumigen Mietswohnungen und kleinen Villen des Viertels, in dem einst zu Kolonialzeiten die gehobene französischen Mittelklasse lebte. USFP-Führer Abderrahmane Youssoufi, einst zum Tode verurteilt und exiliert, wurde über Nacht wieder zum Hoffnungsträger, nachdem König Hassan II. die Verfassung geändert und ihn mit der Regierungsbildung beauftragt hatte. Die alternance, der Wechsel, war geboren, ein Übergang zu mehr Freiheiten, der sich hauptsächlich auf die gebildete Mittelschicht stützen soll. „Youssoufi und Mohammed VI. werden gemeinsam Marokko zur Demokratie führen“, sagt Zouane und wirkt dabei zum ersten Mal richtig leidenschaftlich. Schnell hängt er an: „So wie es Hassan II. vorsah.“

Die Parteizugehörigkeit ist für die vier zweitrangig. Sie definieren sich übereinstimmend als „gemäßigte Royalisten“. Bararha erklärt: „Hier in Marokko gibt es drei Eckpfeiler, an denen nicht gerüttelt werden darf. Der Islam, das Vaterland und die Monarchie“ – Tabus, die er wie die überwältigende Mehrheit der Marokkaner verinnerlicht hat. Wie um diesen Satz zu untermalen, dringt aus den offenen Fenstern der Mietshäuser am Platz der Ton der Zusammenfassung der Beerdigung des Monarchen herüber: „Mit der Seele sind wir bei dir, König Hassan“ und „Das ist die Stunde Gottes und derer, die Gott lieben“, lauten die erneut ausgestrahlten rhythmischen Sprechchöre von der Beerdigungsprozession.

Nach ihrem größten Wunsch an den neuen Monarchen befragt, überlegen die vier eine Weile. Dann ergreift wieder Zouane das Wort: „Wir hätten gerne eine Monarchie wie in England oder Belgien.“ Bisher war in Marokko der König Staatschef, aber auch oberste Regierungsautorität. Zouane hätte gerne, „daß Mohammed VI. Youssoufi mehr Spielraum einräumt und ihn tatsächlich regieren läßt.“ Zustimmendes Gemurmel zu einem Satz, den zu Lebzeiten von Hassan II. keiner auszusprechen gewagt hätte.