Tristesse einmal in Extraklasse

■ Russisches Jugendtheater „Teatralik“ begeisterte mit schwermütigem Stück

„Meine Herrschaften, wir leben am Ausgang des zwanzigsten Jahrhunderts. So kann man nicht mehr weiterleben!“ Dieser Satz dröhnte gestern – auf russisch zwar, aber erläutert – durch die Aula der Waldorfschule. Zu Gast ist das Jugendtheater „Teatralik“ aus Saratov an der Wolga, das gerade durch Deutschland tourt. Vor fünf Jahren fing die Regisseurin Anshelika Torgaschina an, Kinder von der Straße zu holen und mit ihnen Theater zu spielen. Fünfmal die Woche trainieren die 12- bis 18jährigen Ausdruck, Sprache, Mimik und Tanz. Herausgekommen ist ein Jugendtheater der Extraklasse.

„Teatralik“ zeigt das Stück „Eine unglaubliche Geschichte“ in Anlehnung an Erzählungen Anton Tschechows. Die Gruppe kritisiert die augenblickliche kulturelle und soziale Situation in Rußland. Obwohl Tschechows Vorlagen über hundert Jahre alt sind, besitzen sie eine unglaubliche Aktualität, da die Jugendlichen selber heute ganz ähnliche Probleme erfahren.

„Meine Herrschaften, wir leben am Ausgang des zwanzigsten Jahrhunderts. So kann man nicht weiterleben!“ Das markiert eigentlich den Beginn einer Revolution, die aber im unorganisierten Unvermögen scheitert. Krieg, Jugendkriminalität, kulturelle Verwahrlosung, fehlendes Vertrauen in die Politik und deren Fehlleistungen, Demoralisierung und staatliche Veruntreuung sind die Ansatzpunkte, stilistisch dargestellt durch Tanz und Bewegung.

Die Kinder haben aber einen wiederkehrenden Traum: Die reine russische Seele in Form einer in weiß gekleideten Tänzerin verkörpert die Hoffnung auf ein besseres Leben. Aber immer neue Sequenzen des Leids lassen diesen Traum schwächer werden. Das zweite Mal erscheint die Tänzerin in schwarz mit weißem Schal. Ihr Ausdruck ist nicht mehr so eindringlich und ihre Bewegungen sind langsamer geworden: Der Traum verlischt. Das dritte Mal, nun ganz schwarz, bewegt sie sich kaum noch: Die Hoffnung ist nur noch ganz schwach, aber nicht tot.

Mit aufgerissenen Augen und Mündern, zittrigen Händen und Zeitlupenbewegungen signalisieren die jungen Russen ihr Elend und ihre Verzweiflung. Für Zuschauer und Darsteller ein Wechselbad der Gefühle zwischen Hoffnung und Enttäuschung, Licht und Schatten, Bewegung und Starre. Das ganze wird unterlegt von der Percussionmusik Peter Graefs und einer Portion bunten Scheinwerferlichts.

„Teatralik“ überzeugt besonders durch eindringliches Mimenspiel. Auch die NebendarstellerInnen beherrschen gekonnt ihre Gesichtsmuskeln. Die pantomimischen Leistungen der SchauspielerInnen sind so herausragend, daß auch ZuschauerInnen, die nicht russisch sprechen, alles verstehen. Kein Bühnenbild außer ein paar Stühlen, keine Kostüme außer schwarzer Kleidung, keine Worte außer ein paar Fetzen russisch, und doch versteht jeder den Sinn des Stücks. Die Körpersprache ist überwältigend. Die ZuschauerInnen sind begeistert. Lukas Heiny