Furiose Geisterfahrt mit offenem Ende

Nigeria bricht auf in die Demokratie – eine neue Ära, deren Spielregeln keiner kennt. Während Präsident Obasanjo erste mutige Schritte unternimmt, erkundet die unterdrückte Jugend ihre neuen Freiräume mit Gewalt    ■ Aus Lagos Jahman Anikulapo

„Aber“, sagte der schlaksige Berliner Theaterdirektor und konnte seine Enttäuschung nicht verbergen, „aber du hast mir doch gesagt, daß du das nicht mehr machen wirst!“

In der Hitze der Ankunftshalle des Flughafens von Lagos erinnerte sich Mathias Gehrt, der mitten in der Hitze der Demokratisierung nach Nigeria gereist war, an ein Versprechen seines nigerianischen Freundes vom letzten Jahr: In Vorfreunde auf die kommende Demokratie werde er nicht mehr militärisch grüßen.

Und nun hatte der Freund doch soldatisch salutiert. „Sorry“, sagte er. „Aber das hat sich uns so eingeprägt, nach Jahren der Romanze mit militärischen Abartigkeiten ....“

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29. Mai. Präsident Olusegun Obasanjo wird vor Gästen aus 36 Nationen im Eagles Square der Hauptstadt Abuja in sein Amt eingeführt. Er hält seine erste Amtsrede. Er, einst selbst General und Militärherrscher, erklärt seine ehemaligen Kameraden zu verantwortungslosen Bürgern, die die Seele der Nation durch Gier, Korruption und Rechtlosigkeit zerstört haben. Zu seinen Zuhörern gehören Exdiktator General Ibrahim Buhari und Exdiktator General Ibrahim Babangida. Und General Abdulsalam Abubakar, der nach dem Tod von General Sani Abacha 1998 den Übergangsprozeß von der militärischen zur zivilen Herrschaft einleitete.

Drei Stunden nach seiner Rede tritt Obasanjo in Aktion. In seiner Übergangsresidenz, dem Akinola-Aguda-Haus, wo ein gigantisches Fest zu Ehren der ausländischen Gäste stattfindet, verkündet der Präsident die Absetzung der Kommandeure der verschiedenen Waffengattungen im Militär, die bislang an der Regierung waren. Für die Nation ist es ein Schock.

In den nächsten Tagen dringt Obasanjo noch tiefer in das Herz der militärischen Klasse vor. Alle Offiziere, die in den vergangenen 16 Jahren jemals ein politisches Amt bekleideten, sind entlassen – es sind etwa zweihundert. Der Wind der Säuberung peitscht durch das Militär, und die junge Demokratie zittert. Haben nicht einige der Betroffenen Rache angekündigt? Kommt bald der nächste Putsch?

Bis heute gibt es eine kuriose Spannung im Land, eine ständige Angst, daß die neue demokratische Erfahrung nicht lange andauert. Die Säuberung des Militärs wird von manchen als ethnische Säuberung interpretiert. Denn das Militär beherrschen Offiziere aus dem muslimischen, von Haussa-Fulani bewohnten Norden. Der politische Machtkampf in Nigeria war oft ein Kampf zwischen dem Norden und den Völkern des Südens – die Yoruba im Südwesten, die Igbo im Südosten, die Eingeborenen des Niger-Deltas. Obasanjo ist ein Yoruba.

Nun kommt, kaum daß er an der Macht ist, der Klageruf aus dem Norden, man werde benachteiligt. Zwar hat Obasanjo sich mit einem völlig überdimensionierten Kabinett mit Ministern aus allen Landesteilen umgeben und mit einem übergroßen Klub von Sonderberatern, um die 420 ethnischen Gruppen Nigerias zufriedenzustellen. Aber durch den öffentlichen Raum hallt der Ruf der „Marginalisierung“.

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Nach Jahren der Abwesenheit von der Bühne der Demokratie scheint die Mehrheit der Politiker kein Verhältnis mehr zu demokratischen Prinzipien zu haben. Kurz nach seiner Amtsübernahme schafft Obasanjo den „Petroleum Trust Fund“ (PTF) ab – eine 1995 geschaffene Einrichtung Abachas, um Öleinnahmen in Entwicklungsprojekte zu kanalisieren, die aber immer als Instrument der nördlichen Elite zur Wahrung ihrer Hegemonie über die Ölgelder und als Quelle der Korruption gesehen wurde. Obasanjo ernennt nun einen nordnigerianischen Radikalen, Haroun Adamu, zum Abwickler des PTF.

Die nördliche Elite schreit. Zu allem Überfluß hat Obasanjo seine Entscheidung ohne das neue gewählte Parlament getroffen. Darin sitzt eine Mehrheit aus dem Norden, und die hätte sich vermutlich quergestellt.

Also stellt sich das Parlament nun erst recht quer: Es beschließt, die Abschaffung des PTF sei illegal. Der Präsident erklärt, der Fonds sei in Nigerias neuer Verfassung nicht mehr vorgesehen und könne daher nicht mehr existieren. Er erhält die Unterstützung der Judikative.

So sind gleich von Anfang an die Beziehungen zwischen Exekutive und Legislative gespannt. Auf der Ebene der Bundesstaaten wird die brüchige Natur des neuen politischen Systems handfest deutlich. In Lagos prügeln sich die Abgeordneten des neuen Landtags bei der Eröffnung. Im Bundesstaat Imo landen manche Parlamentarier nach ihrer ersten Sitzung im Krankenhaus. Im Bundesstaat Anambra entgeht der Vizegouverneur zweimal knapp einem Mordanschlag. Das ganze System steckt voller Dispute, die die gesamte demokratische Erfahrung gefährden können.

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Zwei Wochen ist Obasanjo an der Macht. Im Niger-Delta, das mit seinem Erdöl über 90 Prozent der Deviseneinnahmen Nigerias erwirtschaftet, aber viel ärmer ist als der Rest des Landes, brodelt ein Aufstand. Die zivile Regierung kann nicht einfach wie früher die Gewehre gegen das Volk richten. Also reist Obasanjo ins Niger-Delta und trifft die Führer der Milizen, die sich inzwischen gegenseitig bekämpfen.

Während seiner Gespräche versucht eine Gruppe bewaffneter Jugendlicher, das Konferenzzentrum zu besetzen, in dem die Treffen stattfinden. Sie zwingen den Präsidenten, mit ihnen zu reden. Er muß alle seine diplomatischen Künste aufbieten, um ihre aggressiven Nerven zu beruhigen.

Aber die Jugendlichen ergreifen die Gelegenheit, um ihn daran zu erinnern, daß er der Architekt ihres Unglücks ist. Es war Obasanjo, der in seiner Zeit als Militärherrscher 1976 – 79 das berüchtigte Landnutzungsdekret einführte, das alle Landnutzungsrechte in Nigeria dem Staat überträgt.

Obasanjo verspricht, eine Lösung zu finden. Er hat eine Sonderkommission eingesetzt. Aber während Obasanjo wartet, daß seine Experten ihm Ideen liefern, erreicht die Gewalt im Niger-Delta eine neue Dimension.

Bewaffnete Jugendliche beginnen, Mitarbeiter von Ölfirmen zu entführen. So werden am 7. Juli neun ausländische und 16 nigerianische Mitarbeiter von Shell im Ölfeld Egwa als Geiseln genommen. Der Gouverneur des Bundesstaats Delta bittet um Gnade. Am 11. Juli werden zwei Ausländer und ein Nigerianer freigelassen, und die Jugendlichen versprechen, alle freizugeben, wenn Shell Entschädigungen für die Umweltzerstörung in Milliardenhöhe zahlt.

Die Jugend ist in ihrem Marsch in die Guerillataktik nicht mehr aufzuhalten. Die zivile Regierung setzt auf Dialog. Früher, unter der Militärherrschaft, hätte man Gewalt gegen Gewalt gesetzt.

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10. Juli. Eine Gruppe bewaffneter Studenten stürmt ein Wohnheim an der Obafemi-Awolowo-Universität in Ile Ife im Südwesten Nigerias. Sie erschießt fünf Studenten und verwundet zehn weitere schwer. Die Angreifer gehören einem Geheimkult an, wie es sie immer öfter an Hochschulen und Universitäten gibt.

Das Militär hat das gesamte Bildungswesen vor die Hunde gehen lassen im Glauben, die Verrottung der Schulen garantiere die Lähmung der Bevölkerung. In den letzten acht Jahren haben die Studenten mehr Zeit außerhalb der Schulen als beim Studium verbracht. Die Bildungsinstitutionen bekamen kein Geld mehr und mußten Steuern und Gebühren erheben. Vor der Amtsübergabe an Zivilisten waren Schüler und Studenten vier Monate lang im Streik, unter anderem weil auch ihre Lehrer streikten.

Das Kultphänomen ist eine Ausgeburt der Militärregierung. Es begann, als die Militärbehörden Studentengruppen in den Untergrund drängten. Früher, in den Zeiten des Militärs, waren die Schulgelände voller Soldaten. Die neue demokratische Regierung kann sich diesen Luxus nicht leisten. Sie muß eine zivilen Weg gegen die Gewalt finden. Derweil werden selbst die Universitäten Kriegsschauplätze.

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„Verstehst du“, erklärt der nigerianische Freund am Flughafen von Lagos, „in 16 Jahren Militärherrschaft sind wir alle militarisiert worden, im Denken, im Handeln, in der Pose. Sogar zu Hause reden Väter mit ihren Kindern im Kasernenton, und die Mütter schlagen die Kinder lieber, als sie mit Worten zurechtzuweisen. Auf der Straße laufen Leute in Uniformen herum und rauben unschuldige Leute aus, als wären sie bewaffnete Räuber.

Wer in den letzten 15 Jahren hier geboren wurde und in den letzten 25 Jahren hier aufwuchs, kennt keine andere Sprache als die der Gewalt, des Krieges, des bewaffneten Kampfes. Guck mal: Sogar unsere Führer reden zu uns in einer Tradition der Gewalt. Ihre Reden sind voll von absolutistischen Phrasen wie 'mit sofortiger Wirkung‘. Verstehst du jetzt, warum es uns so schwerfällt, unsere Freunde nicht mehr mit einem militärischen Gruß willkommen zu heißen ...“

Der Autor ist Redakteur der nigerianischen Zeitung „The Guardian“ und schrieb diesen Text für die taz.