Lebenslang Bühne

■  Das Gefängnistheater Volterra zählt zu den bekanntesten Ensembles Italiens – obwohl Tourneen nur im Hafturlaub stattfinden

Eine kahle Zelle von drei mal neun Metern, in der Mitte ein Mann, mit dem Kopf nach unten an einem Strick von der Decke baumelnd. Scheinbar mühelos richtet er seinen über und über tätowierten Oberkörper auf, scheinbar mühelos erzählt er seine Geschichte: Erwürgt hat er die Alte, mit bloßen Händen, angeekelt von ihrem Uringestank.

Um ihn sitzen 30 Männer im Halbkreis auf dem Boden, schweigend, die Gesichter angespannt. Die Spannung löst sich, als ein Marktschreier in Frack, Zylinder, Turnschuhen dem Sprecher dazwischenfährt. Voll Amüsement trägt er Erkenntnisse des Kriminologen Cesare Lombroso vor; Erkenntnisse, die seinerzeit dem Duce gut gefielen: Hervorquellende Augen habe der typische Gewohnheitsverbrecher, wülstige Lippen, fliehende Stirn. Und während er so redet, fahren seine Hände immer mal wieder einem der Männer ins Gesicht, verzerren seine Züge, machen sie passend zur Kriminologie.

Denn Kriminelle sind die auf dem Boden durch die Bank: Mörder, Raubtäter, Camorristen, auf Jahre eingesperrt im Hochsicherheitsgefängnis von Volterra. 200 Häftlinge sitzen dort ein, ausschließlich Männer, zwei Drittel stammen aus dem Mezzogiorno. Fremdkörper der Gesellschaft – Fremdkörper, die Theater spielen, die sich mit Jean Genets „Neger“ selbst auf die Bühne bringen.

„Natürlich ist das Stück als Ohrfeige für die Gesellschaft gedacht. Die Neger von damals, das sind doch heute wir Gefängnisinsassen“, sagt einer der Hauptdarsteller. „Leute, die immer am Rand der Gesellschaft gestanden haben, die zeitlebens Opfer von Übergriffen wurden.“

Die da täglich in der Zelle der alten Feste von Volterra proben, sie sind mittlerweile eine der bekanntesten Theatergruppen Italiens: die „Compagnia della Fortezza“, die Gruppe der Festung, und sie wurden mit zwei der wichtigsten Theaterpreise des Landes ausgezeichnet, dem Premio Ubu und dem Premio di Taormina. „Anstaltstheater“ gehört heute in fast allen Gefängnissen Italiens zum Alltag, auch in Deutschland sind etwa 30 Justizvollzugsanstalts-Theatergruppen aktiv. Doch anders als andere bieten die Männer von Volterra Profitheater.

Profis sind die Schauspieler, die seit elf Jahren in stabiler Besetzung Tag für Tag zusammenarbeiten, professionell ist das breite, sicher beherrschte Repertoire vom neapoletanischen Drama über Peter Weiss zu Ariost und Kenneth Brown. Weniger professionell sind bisweilen die Arbeitsbedingungen. Die Sondergenehmigung für Tourneen wurde gestrichen, als vor vier Jahren einige Mitglieder des Ensembles die Auswärtsspiele für Banküberfälle nutzten.

Seither müssen die Darsteller ihren regulären Hafturlaub nutzen. Wer keinen Anspruch hat, bleibt in der Festung, und die Truppe geht dezimiert auf Reisen, so wie Ende Mai bei dem zweitägigen Gastspiel im Teatro Valle in Rom: Mit nur 15 Ensemblemitgliedern brachte die Compagnia della Fortezza dort Jean Genets „Neger“ auf die Bühne, und in der Pause zwischen der Nachmittags- und der Abendvorstellung mußten die schauspielernden Hafturlauber sich zur Personenkontrolle auf der Polizeiwache melden. In voller Besetzung zu sehen ist die Theatergruppe nur im Sommer bei ihren Auftritten im Gefängnishof, die zu den Höhepunkten des seit 1988 jährlich stattfindenden Avantgardetheater-Festivals von Volterra zählen.

Profitheater, doch die auf der Bühne stehen, lassen ihre Herkunft keine Sekunde vergessen. Massige, halbnackte, tätowierte Körper. Harte, verletzliche Gesichter, grobe Hände. Bedrückend auch die Nähe, die die schauspielenden Häftlinge ihrem Publikum zumuten, die Intensität, mit der sie ihre Gefühle bloßlegen und daraus Theater machen.

Und doch wird der Zuschauer hier nicht zum Voyeur: Er wird hineingezogen, unverwandt blikken ihm die Akteure ins Gesicht, bereit, auf jede seiner Regungen sofort zu reagieren, ihn zu provozieren oder ihm auch nur ein aufmunterndes „Ist doch bloß Theater“ zuzuwerfen, wenn er sich von seinen Gefühlen zu weit forttragen läßt, ein „bloß Theater“, das die Schauspieler selbst nicht recht glauben. „Ob unser Theater Realität oder Fiktion ist? Wir lassen da besser ein Fragezeichen. Wir selbst sind echt, wir brauchen keine Spezialeffekte“, kommentiert einer der Gefangenen das eigene Verständnis.

In jedem Moment der Aufführung verschwimmen die Grenzen zwischen Fiktion der Rollen und Realität der Darsteller. Keiner von ihnen war auf der Schauspielschule, doch alle agieren, als hätten sie bei Stanislawski studiert. Weder verschwinden die Akteure vollkommen hinter den personifizierten Charakteren, noch schaffen sie verfremdend Distanz zur dargestellten Rolle. Die Texte von Genet, von Brown oder von Weiss geben ihnen Gelegenheit, von sich selbst zu erzählen. So wird Bobòs Hymne aus den „Negern“ zu einem Klagelied, und wo Genet die Felicité weinen läßt, da bricht der Darsteller unvermittelt in echte Tränen aus, wird mitten in der Szene von den anderen getröstet.

„Wir sind Leute, die auf der Straße gelebt haben, unser Leben war immer emotionsgeladen. Wir schämen uns nicht, vom Leben gezeichnete Gesichter zu haben, wir sind zu vielem fähig, das normalen Personen schwerfiele. Sätze wie ,Wenn ich nicht in der Sklaverei geboren wäre‘ geben meine persönliche Situation aufs Haar wieder. Seitdem ich ein Junge war, hab' ich immer im Knast gesessen“, erzählt einer der Volterraner.

Armando Punzo, Gründer und Regisseur der Truppe, denkt keineswegs daran, für seine Aufführungen einen Sozialbonus zu reklamieren: „Die Gruppe ist weder aus ideologischen noch aus sozialarbeiterischen Motiven entstanden. Natürlich gewinnen alle Personen, die Theater machen, aber wir haben hier keinerlei therapeutische Absichten.“ Nicht um bessere Menschen geht es Punzo, sondern um gute Schauspieler, nicht um mitleidheischende Sozialmelodrame, sondern um Theater, das vor allem glaubwürdig ist. „Das Gefängnis bildet einen direkten Gegensatz zum Theater, wir machen Theater, ohne das übliche Theater bieten zu wollen: Theater als Beruf, als Routine, als Gewohnheit. Hier dagegen kann ich das beste aus den Schauspielern herausholen, ihre ganze Spannung – und die braucht man für eine ordentliche Inszenierung.“

Am Ende quittieren die Zuschauer die Vorstellung der „Neger“ in Rom mit einem frenetischen Applaus – und die ihnen Auge in Auge gegenüberstehenden Schauspieler fallen ein, als wollten sie in diesem Akt der Gemeinsamkeit endgültig ihr Fremdsein durchbrechen, gegen das sie den ganzen Abend angespielt haben. „Für mich war das Theater die Entdeckung eines ganz neuen Kanals, um Kontakt zu anderen Menschen herzustellen“, bemerkt einer der „Neger“ aus Volterra. „Ich habe fast 14 Jahre auf dem Buckel, aber wenn alles glatt geht, bin ich bald draußen. In Neapel werde ich Theater spielen, auf der Straße, im wirklichen Leben, das ist dort ja ein einziges großes Theater. Auch wenn das Stück, das dort gegeben wird, noch gefährlicher ist als das, das wir hier aufführen.“ Marina Collaci ‚/B‘Das Festival von Volterra findet vom 26. Juli bis 1. August statt. Die Compagnia della Fortezza ist dort mit Peter Handkes „Publikumsbeschimpfungen“ zu sehen. Zuschauer werden zu den Aufführungen im Gefängnishof nur nach vorheriger Anmeldung zugelassen.