Täter-Opfer-Täter-Opfer

■  Das Urteil über einen ehemaligen Polizisten, der zugab, Kollegen gedeckt zu haben, könnte einen schweren Übergriff neu aufrollen

Letzte Woche spielte sich vor dem Kriminalgericht in Berlin-Moabit ein äußerst seltener Fall ab: Daß sich der ehemalige Polizeibeamte Christian D. dort als Angeklagter zu verantworten hatte, war seine eigene Entscheidung gewesen. Er hatte vor Jahren als Zeuge in einem Strafprozeß eine Kollegin zunächst gedeckt, später aber seine Aussage widerrufen und die Beamtin dann statt dessen beschuldigt, einer Frau Widerstand gegen die Staatsgewalt und Körperverletzung angehängt zu haben. Ein Kronzeuge gegen die Polizei also und ein sogenannter Nestbeschmutzer zugleich. Christian D. wurde letzte Woche zwar verurteilt, das Gericht glaubte ihm allerdings seine zweite Aussage, aufgrund deren nun eine spektakulärer Fall eines kriminellen Polizeiübergriffes vollkommen neu aufgerollt werden könnte.

Der Vorfall, um den es geht und der nach der jüngsten Verhandlung inzwischen insgesamt vier Prozesse zur Folge hatte, liegt exakt sechs Jahre zurück. Er ereignete sich Anfang Juli 1993 im U-Bahnhof Zoo und kennt gleichsam vier Hauptpersonen: erstens den Tunesier Mongi B., der an diesem Samstag nachmittag mit seiner Familie auf dem Weg zum Zoologischen Garten war. Er soll die Polizistin Anja R., so sie selbst und Hauptperson Nr. 2, auf dem Bahnsteig zur Seite gestoßen haben. Warum, kann die Beamtin nicht sagen. Mongi B. sagt, er habe sie lediglich aus Versehen angerempelt und sich sofort entschuldigt. Doch Anja R. habe ihn einen „Scheißausländer“ genannt. Angelina B., die deutsche Frau des Tunesiers und Hauptperson Nr. 3, reagierte spontan und beleidigte ihrerseits die Beamtin und bestreitet dies auch gar nicht. Was sie dagegen vehement von sich weist, ist der Vorwurf der Beamtin, sie am Hals gewürgt zu haben. Daraufhin hatte die Beamtin Strafanzeige erstattet. Mongi B. wurde, weil er seinen Ausweis nicht dabei hatte, in Handschellen gefesselt zur Wache am Ernst-Reuter-Platz gefahren. Er wurde, so seine Version, so brutal zusammengeschlagen, daß er Todesangst bekam. Die Version der Polizisten: Mongi B. habe Widerstand geleistet und seine offensichtlichen Verletzungen habe er sich bei einem Fluchtversuch selber zugezogen. Der Fall sorgte für großes Aufsehen, unter anderem berichtete die ZDF-Sendung „Kennzeichen D“ darüber.

Im Februar 1995 standen Mongi und Angelina B. vor Gericht – Prozeß Nr. 1. Neben einem halben Dutzend Polizisten trat dort als Zeuge auch der Polizeibeamte Christian D. auf, Hauptperson Nr. 4. Er sagte zugunsten seiner Kollegin aus. Die B.s wurden wegen Widerstand beziehungsweise Beleidigung und Körperverletzung verurteilt: Mongi B. zu 4.800 Mark, Angelina B. zu 2.600 Mark. Mongi B. bezahlte die Strafe, weil er als Ausländer keine Chance sah, sich gegen die Polizeizeugen durchzusetzen. Doch Angelina B. ging in Berufung, die ein Jahr später, im März 1996, stattfand – Prozeß Nr. 2. Christian D., der inzwischen die Polizei verlassen hatte, machte eine aufsehenerregende neue Zeugenaussage. Er habe im ersten Verfahren falsch ausgesagt, erklärte er. Die Körperverletzung durch Angelina B. an der Polizistin Anja R. sei erfunden gewesen. Die Beamtin habe ihn damals in der Wache gebeten, ihr die Würgemale zuzufügen, was er allerdings abgelehnt habe. Christian D. belastete damit nicht nur seine ehemalige Kollegin, sondern auch sich selbst. Er hat in zwei Gerichtsverhandlungen gegensätzlich ausgesagt und sich damit auf jeden Fall strafbar gemacht. Christian D. ist sich dessen bewußt, aber die Gerechtigkeit war ihm wichtiger. Eigentlich ein Zeichen für die Glaubwürdigkeit des Zeugen, dessen Version obendrein ein Krankenhausarzt stützte, den die Polizistin Anja R. aufgesucht hatte. Er habe an ihrem Hals weder Würgemale noch Verletzungen feststellen können, erklärte er vor Gericht. Aufgrund der Klagen der Beamtin habe er seine Diagnose mit den seltenen Worten geschrieben: „Würgegriff ohne wesentliche Verletzungsfolgen“.

Die Justiz gab sich unbeeindruckt. Staatsanwalt und Richter glaubten der Polizeibeamtin die wunderliche Aussage, die Hämatome an ihrem Hals hätten sich erst später gezeigt. Christian D. dagegen wurde als „lebensfremd“, „nicht glaubhaft“ und seine Aussage als „schlicht abwegig“ abqualifiziert. Staatsanwalt und Richter entschieden sich gegen den Polizei-Aussteiger und für die im Dienst verbliebene Repräsentantin des staatlichen Gewaltmonopols. Und das, obwohl ihnen bekannt war, daß die Beamtin zwischenzeitlich in einem anderen Verfahren wegen Körperverletzung im Amt verurteilt worden war. Die Berufung der verurteilten Angelina B. dagegen wurde abgelehnt. Gegen den Ex-Polizisten Christian D. selbst wurde ein Strafverfahren wegen Falschaussage vor Gericht eingeleitet.

Angelina B. blieb hart. Sie legte Revision ein, bemängelte unter anderem, daß kein medizinischer Gutachter herangezogen wurde, wie es ihr Anwalt beantragt hatte, um zu klären, ob die Polizistin Hämatome am Hals haben konnte oder nicht. Im September 1997 gab das Kammergericht der Revision statt und hob das ablehnende Berufungsurteil auf. Die Berufungsverhandlung mußte wiederholt werden. Das war im November 1997 – Prozeß Nr. 3. Das Gericht machte sich aber nicht die Mühe, den Fall neu aufzurollen, sondern wandte einen Kunstgriff an: Es stellte das Verfahren gegen Zahlung einer Geldbuße von 500 Mark ein. Das ersparte Angelina B. zwar 2.100 Mark, andererseits blieb die Beamtin Anja R. aber vor Strafverfolgung geschützt. Denn wenn das Gericht ein richtiges Urteil gesprochen hätte – zugunsten von Angelina B. –, wäre die Staatsanwaltschaft gezwungen gewesen, von Amts wegen gegen die Polizistin zu ermitteln – wegen Falschaussage vor Gericht, falscher Verdächtigung und Vortäuschung einer Straftat.

Gegen Christian D. wurde derweil weiter ermittelt. Es folgte die Anklage und Anfang Juli dieses Jahres der Prozeß – Prozeß Nr. 4. Christian D. reiste aus dem niedersächsischen Lingen an, wo er seit einigen Jahren als Justizvollzugsbeamter arbeitet. Doch wegen des laufenden Strafverfahrens ist er seit über drei Jahren noch immer in der Probezeit.

Die erste, die falsche Aussage habe er gemacht, so Christian D. vor wenigen Tagen vor Gericht, weil er durch die ehemalige Kollegin unter Druck stand. Er habe damals versagt. Die Beamtin Anja R. sei der alleinige Aggressor bei dem Vorfall auf dem U-Bahn-Steig gewesen, erklärte er und wiederholte den Vorwurf, sie habe ihn gebeten, ihr die Würgemale beizubringen. In seiner weiteren Aussage belastete er auch mehrere Polizeibeamte der Wache am Ernst-Reuter-Platz. Der Tunesier Mongi B. sei von ihnen so schwer mißhandelt worden, daß er blutend und weinend in der Zelle lag. Monatelang, so Christian D. weiter, habe er sein schlechtes Gewissen mit sich rumgetragen, ehe er mit Familie B. Kontakt aufnahm, ihnen die Wahrheit sagte und sich bereit erklärte, in der Berufungsverhandlung neu auszusagen.

Eine Falschaussage vor Gericht sei kein Bagatelldelikt, befand der Staatsanwalt und forderte eine Geldstrafe von 7.200 Mark. Zu dieser Summe verurteilte die Richterin Christian D. dann auch, allerdings auf Bewährung – ein, wie sie selbst sagte, ganz seltener Vorgang. Der Grund dafür war – und das ist der Schlüssel für die mögliche Fortsetzung des gesamten Falles unter neuem Vorzeichen –, daß sowohl die Richterin als auch der Staatsanwalt nun Christian D.s zweiter Aussage glaubten, mit der gleichzeitig ein schwerer Verdacht auf seine ehemalige Polizeikollegin fällt. Schuldig gesprochen wurde Christian D., weil er in erster Instanz gelogen hatte, als er die Beamtin deckte.

Dieses Urteil müßte nach strafprozessualer Logik nun zu juristischen Konsequenzen führen: zu dem Strafverfahren gegen die Polizeibeamtin Anja R., das bisher umgangen worden ist; zu einem Verfahren für die Aufhebung des Urteils gegen Mongi B.; aber auch zu einem Verfahren gegen Polizeibeamte des Abschnittes 27 wegen der Mißhandlung des Tunesiers, der inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt.

Bei Familie B. ist im übrigen noch eine Rechnung offen. Das Polizeipräsidium von Berlin verlangt von ihnen die Zahlung des Verdienstausfalles der Beamtin Anja R., die sich nach dem Vorfall eine Woche krank schreiben ließ – 643 Mark mit Zinsen. Erst vor wenigen Tagen klingelte der Gerichtsvollzieher erneut an der Wohnungstür. Angelina B. verwehrte ihm den Zutritt.

Thomas Moser

Monatelang hat der Polizist sein schlechtes Gewissen mit sich rumgetragen, ehe er die Wahrheit sagte