■ Um politisch zu überleben, müssen die Grünen in zwei, drei ausgewählten Feldern die Meinungsführerschaft zurückerobern
: Ein grüner dritter Weg

Das gegenwärtige grüne Erscheinungsbild erweckt nicht den Eindruck, als habe die Partei aus den letzten Wahlniederlagen gelernt. Im Gegenteil: Die Grünen wirken kopflos und konfus, einige suchen in parteiinternen Auseinandersetzungen die Flucht nach vorn. Dabei gäbe es Ansatzpunkte genug, Lehren aus den letzten Wahlergebnissen zu ziehen.

Die starke Abwanderung zu den Nichtwählern zeigt, daß Teile des grünen Stammwählerpotentials stark verunsichert sind. Das ist deshalb besonders alarmierend, weil die Wahlforschung zeigt, daß Parteien nur dann ihre Stärke voll ausspielen können, wenn sie in der Lage sind, mit eigenen Themen ihre Stammwählerschaft maximal zu mobilisieren und dadurch auch potentielle Wechselwähler mitzuziehen. Statt dessen droht zur Zeit eher die Gefahr, daß sich die Grünen, eingezwängt in die Logik des Regierens, das ein ums andere Mal der Koalitionsräson unterwerfen müssen und dabei immer mehr negativ an „Real“politiker erinnern.

Um dieser Falle zu entgehen, müßten Partei- und Fraktionsspitze – unter Einschluß des intellektuellen Umfeldes der Grünen – sich auf die Erarbeitung und Popularisierung konzeptioneller Reformanstöße konzentrieren, die nicht auf Koalitionsbündnisse, sondern auf Gesellschaftsbündnisse zielen. Konkret: Die Grünen müssen sich in zwei, drei ausgewählten Feldern der anstehenden Reformaufgaben die Meinungsführerschaft zurückerobern.

Paradox ist beispielsweise, daß die WählerInnen den Grünen in Fragen der Ökologie zwar nach wie vor die größte Kompetenz einräumen, daß die Grünen – sieht man sich die traurige Bilanz ihres Umweltministers an – aber kaum in der Lage sind, dieses Vertrauen einzulösen. Während DaimlerChrysler in Fernsehspots seine neuen Autos durch Windenergieparks und Solaranlagen fahren läßt, beißen sich die Grünen an einer Debatte über den Zeitpunkt eines Atomausstiegs fest, statt offensiv den Einstieg in neue, regenerative Zukunftstechnologien zu diskutieren und damit den Druck auf die Atomlobby zu erhöhen.

Reaktionen erfordert auch der hohe Anteil von Wechselwählern zur SPD. Solche Austauschprozesse hat es zwar auch in der Vergangenheit gegeben, aber sie spielen sich diesmal unter anderen politischen Voraussetzungen ab. Bis Mitte der Neunziger verloren die Grünen vor allem dann an die SPD, wenn sie mit einem rot-grün angehauchten Spitzenkandidaten konfrontiert waren. Gegen rechtssozialdemokratische Widersacher konnten sie dagegen in der Regel eher zulegen. Mit Schröders „neuer Mitte“ ist dieses Nullsummenspiel zu Ende gegangen.

Seit der Niedersachsenwahl 1998 gewinnt die SPD mit einem neuen Wahlkampfstil und Wahlkampfkonzept, das sowohl auf die Traditionswähler als auch auf die modernen bürgerlichen Wähler aus den Dienstleistungsbranchen und technischen Berufen zielt, nicht nur von der CDU und FDP, sondern auch von der Grünen Stimmen hinzu. Zuletzt hat Henning Scherf bei der Bürgerschaftswahl in Bremen demonstriert, wie man mit einer Politik, die auf Bündnisse jenseits der alten linken Traditionslinien zielt, Erfolg haben kann und dabei sogar rot-grüne Wechselwähler gewinnt.

Das Abdriften dieser Wähler zur SPD spiegelt darüber hinaus aber auch die Tatsache, daß Rot-Grün als gesellschaftliches Reformprojekt mittlerweile den Geschmack eine ausgepreßten Zitrone hat. Was in den Achtzigern noch eine Art Aufbruchstimmung signalisierte und den unverbrauchten Charme des „Wir machen alles anders“ für sich reklamieren konnte, ist durch die ernüchternden Erfahrungen auf Landesebene – etwa in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein – sowie durch neun Monate rot-grüne Bundesregierung entzaubert worden.

Für die Grünen heißt das, sich jenseits von Koalitionsoptionen so in den politischen Auseinandersetzungen zu positionieren, daß sie selbst für die Wählerinnen und Wähler der „neuen Mitte“ attraktiv werden.

Ein Zurück in alte linke Lagerbündnisse ist der Partei faktisch versperrt, wenn sie nicht auf ihr Stammwählerklientel zurückgeworfen werden will. Noch ist das Projekt „neue Mitte“ interpretationsoffen: Zwar hat Schröder einige wohlklingende Begriffe aus dem Reservoir von Tony Blairs „New Labour“ übernommen – den traditionalistischen Schutt wegzuräumen, der die SPD immer noch fesselt, ist ihm innerparteilich noch lange nicht gelungen.

Für die Grünen als Partei mit einer strukturell „moderneren“ Wählerschaft könnte dies eine Chance sein, programmatisch selbst zu definieren, was „neue Mitte“ ist. Die entscheidenden Fragen, um die herum das Projekt geschmiedet wird, sind die Reformen der Steuer- und Rentensysteme, der Umbau des Sozialstaates und die Verbindung von ökonomischer Innovation und ökologischer Modernisierung.

Zur Zeit bleiben die Grünen in dieser Debatte aber hinter ihren konzeptionellen Möglichkeiten zurück. Es ist den grünen Experten und ihrem intellektuellen Umfeld längst klar, daß das Verhältnis von Markt, Sozialstaat und gemeinschaftlicher Selbsthilfe neu geordnet werden muß. Aber anstatt einen eigenen „dritten Weg“ zu skizzieren, der die konzeptionellen Ansätze rund um den „Dritten Sektor“ bündelt und das Verhältnis von „aktivierendem Staat“ und gesellschaftlichen und institutionellen Akteuren (siehe hierzu auch Claus Leggewie und Adalbert Evers, taz vom 22. Juni 1999) neu ausbalanciert, läßt man sich von dem Schröder/Blair-Papier den Takt vorgeben.

Natürlich geht es dabei nicht darum, zur besseren FDP zu werden und in einem Wettlauf mit den anderen Parteien um die Dekonstruktion des Sozialstaates einzutreten, wie gerne von Autoren wie Micha Brumlik (siehe Kommentar in der taz vom 6. Juli 1999) unterstellt wird. Vielmehr steht die Verknüpfung einer sozialstaatlichen mit einer bürgerschaftlich-kommunitären Perspektive auf der Tagesordnung. Ein reflexiver Sozialstaat, so der Tenor in den neueren sozialpolitischen Diskussionen, trägt der Einsicht Rechnung, daß Eigenverantwortung und soziales Engagement der Bürgerinnen und Bürger die Demokratiefähigkeit stärken, für das „moralische“ Unterfutter des Sozialstaates sorgen und dazu beitragen, Solidarnormen zu generieren, die sich nicht einfach aus Rechtsansprüchen herleiten lassen.

Es kommt also darauf an, die Frage des Umbau des Sozialstaates weder aus einer klassischen „Armutsbekämpfungsperspektive“ noch aus einer neoliberalen „Rationalisierungsperspektive“ aufzuwerfen, sondern die Frage des Zugewinns an demokratischer Selbstgestaltung in den Mittelpunkt zu stellen. Darin müßten sich die grünen Konzepte von den anderen deutlich unterscheiden.

Lothar Probst

Früher gewann die SPD bei Grünen mit rot-grün angehauchten KandidatenMit Schröders „neuer Mitte“ ist dieses Nullsummenspiel zu Ende gegangen