Lachen, Schnauze und Appetit

Frauen waren die größten Verlierer nach dem Zusammenbruch der DDR. Obwohl soziologische Studien auf eine Vereinheitlichung der Lebensstile in Ost und West hindeuten, sitzt der Schock über Arbeitslosigkeit und den Verlust der Rollenbilder immer noch tief. In Frankfurt (Oder) läßt man am Stammtisch gemeinsam den Frust darüber ab  ■ Von
Henrike Thomsen

Ich möchte diese Diskussion nicht führen“, sagt Sigrid Suszek gleich zu Beginn. „Wir müssen uns mit dem, wie es jetzt ist, einfach mal abfinden.“ Es ist jetzt sieben Uhr abends. Eine Zeit, zu der sich viele Frauen in Frankfurt (Oder) solo nicht mehr auf die Straße trauen. Wegen der Unsicherheit, sagen sie. Wegen der Grenzlage. Zum Stammtisch „Wir für uns“ im Bürgerladen von Renate Watzlaw kommen sie paarweise zur Tür herein: befreundete Hausfrauen, alte Kolleginnen, Sozialarbeiterinnen, Arbeitslose, Mütter und Töchter. Einmal im Monat kommen sie so im guten Dutzend zusammen, um zu diskutieren und zu tratschen. Nur ein Thema erklären sie gleich zu Beginn für passé: das Ost-West-Gefälle, und wie es sich in den letzten zehn Jahren entwickelt hat.

„Ich will da nicht immer drauf herumreiten“, sagt Suszek, die freie Autorin. „Diese ewigen Vergangenheitsdiskussionen sind eigentlich tödlich“, sagt Sabine Stuchlik, die städtische Gleichstellungsbeauftragte. Und schon sind wir mitten drin. Nicht in einer Diskussion, notabene. Wir geraten geradewegs in ein Trauma.

Die Frauen im Osten waren die größten Verlierer der Einheit. Sprunghaft ansteigende Arbeitslosigkeit, eine schlechtere Stellung vor dem Gesetz, neue Schönheitsideale und Bildungsnormen trafen sie besonders. Nach einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung haben vor allem die älteren dies noch immer nicht verkraftet. Kein Wunder: En gros verloren sie, die gefördert von der Gleichstellungspolitik der DDR immer gearbeitet hatten, nach der Wende ihre Jobs. Bis Mitte der neunziger Jahre stieg die Erwerbslosenquote unter Frauen doppelt so hoch als unter Männern. Dabei wurden ABM-Maßnahmen, Umschulungen und der Rückzug ins Private in der Statistik nicht berücksichtigt. Rechnet man sie ein, hat mehr als die Hälfte der Stammtischrunde in Frau Watzlaws Bürgerladen die Härten des Umbruchs persönlich erfahren.

Sie mußten erfahren, daß man ihnen im Amt Dokumente nicht ohne das Plazet des Ehemanns aushändigen wollte. Daß Frauen aus dem Westen ihnen das Ansehen streitig machten; sich mit ihren schlanken Körperformen und ihrem abgehärteten Konkurrenzdenken besser durchsetzten. Rückblickend verdichtet sich das alles zu einem einzigen großen Affront. Frauenverein und Stammtisch wurden letztlich deswegen gegründet. Um das Gefühl von Geborgenheit wieder herzustellen: „Wir für uns“. Um sich gegen die erlittene Ausgrenzung abzureagieren. Und das geht so: „Der hiesige Menschenschlag ist überqualifiziert und einfach nicht frech genug“, beginnt Suszek aus einem ihrer Texte vorzulesen. „Ja, ich gebe ja zu, daß es gar nicht so einfach ist, an einen Dieter Bohlen oder einen Prinzen von Sachsen-Anhalt heranzukommen, um auch einmal Schlagzeilen zu machen. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich das Angebot eines mir zufällig über den Weg laufenden amerikanischen Schönheitschirurgen annehmen würde, mir meine Nase richten zu lassen.“ Gelächter. „Erstens ist meine Nase unübertrefflich schön und passend zu meiner Visage. Und zweitens: Ist Ihnen hier schon einmal ein Schönheitsspezialist begegnet? Aber Verona Feldbusch hatte die Ehre, und schon war sie von Hollywood engagiert ... Ich bezweifle allerdings, daß sie vorher nach ihrem Abiturzeugnis und gesellschaftlich anerkannten Abschlüssen gefragt wurde.“ Erneut Gelächter. „Hierzulande muß man sich ja entschuldigen, wenn man etwas über 30 ist und seit 1990 nur fünf Zertifikate erwerben konnte.“ Alle sind animiert. „Die Filmdarstellerinnen, die man uns jetzt zeigt, haben doch alle keinen Charakter“, findet Brigitte Puhlmann, „der pensionierte Ingenieur“, wie sie selbst sagt. „Die sehen bildschön aus, auch wenn sie in der Wüste herumkrauchen.“ „Da hast du einen Satz von zwanzig Worten, davon sind zehn Fremdworte drin“, findet Frau Stuchlik. „Jeder nickt wohlwollend, weil sich das Ding geschlossen ja gut anhört, aber keiner weiß, was gesagt wird“. Nadja, die blinde Tochter der Gleichstellungsbeauftragten, die bald Kulturwissenschaft studieren will, staucht ihre Tischnachbarin zusammen, weil sie einen Anglizismus verwendet hat. „Zufälligerweise bin ich Anglistin“, verteidigt sich Petra Gillmann, neben der Reporterin die einzige Westlerin am Tisch. „Das kann ja sein“, sagt Nadja, „aber deshalb kannst du doch trotzdem deine Muttersprache anständig benutzen!“

Der Stammtisch sinkt auf Reaktionärniveau. Wahllos werden die Klischees aufgetürmt, wahllos auf wessen Kosten wird hämisch gelacht. Auch auf die eigenen, etwa, wenn man sich daran erinnert, wie man Staatschef Honnecker damals zugejubelt hat. Insgesamt aber wird die Vergangenheit immer goldener.

Gucken Sie sich mal ein paar von den alten sowjetischen Filmen an“, fordert etwa Frau Puhlmann. „,Am stillen Don' oder so. Da geht's um eine Russin, die ist auch sehr schön, aber sonst ... Die ist so richtig.“ So richtig menschlich und unangepaßt, klingt da mit, aber genau sagt Frau Puhlmann das nicht. „Man mußte in den 40 Jahren weitaus kreativer sein“, spinnt Frau Stuchlik die alten Ostlegenden fort. „Man ist immer miteinander im Gespräch gewesen. Heute gehst du in den Laden rein, weißt eigentlich gar nicht, was du willst, und Ahnung hast du auch nicht.“

Damals dagegen! Damals vertrieb man sich beim Anstehen in der Warteschlange mit hervorragenden Gesprächen die Zeit! Damals las man noch Bücher, gehobene Literatur, und zwar gründlich und klug gegen den Strich!

Nadja begrüßt jede alte Anekdote mit einem Jauchzer. Auch Frau Gillmann könnte stundenlang zuhören. „Mir gefallen diese DDR-Geschichten ganz wunderbar, weil sie gelebtes Leben sind“, sagt sie. Nadja und Frau Gillmann wirken bald noch nostalgischer als alle anderen. Ausgerechnet sie: die Schülerin, die beim Fall der Mauer zehn Jahre alt war, und die Englischlehrerin, die 1997 an die Oder zog. Frau Gillmann hat den american way of life der Mediengesellschaft nun mal nie gemocht. Nun wird sie erst recht nicht dafür einstehen, etwa dafür, daß Fremdworte auch ein Stück gelebtes Leben bilden, einen melting pot, in dem sich der kulturelle Austausch artikuliert.

Dabei ist der Verein um Austausch bemüht. Man besucht Ausstellungen mit junger Kunst, ausländische Studentinnen von der Europa-Universität und Kommunalpolitikerinnen aller Parteien. Doch stärkste Vermittlungsinstanz sind die Medien mit ihren Klischees geblieben.

Vor der Reisefreiheit kam das Fernsehen. „Talkshows!“ erinnert sich Frau Stuchlik. „Als DDR-Bürger habe ich noch mit Genuß gesehen, wie die sich untereinander zerfetzt haben.“ Jetzt, wo sie „im Westen“ ist, lacht Frau Stuchlik über die, die auf die Medien hereinfallen.

Frau Suszek hat auch dazu die passende Geschichte: „Ich weiß beispielsweise“, liest sie, „daß ich Tante Adelheid nie zwischen drei und vier nachmittags anrufen sollte, weil sie gerade einen klassischen Western, ein Königsdrama oder ,Heimatglocken in Lederhosen' anschaut. Dazu läßt es sich wunderbar Kaffee trinken, und der aufgeschnittene Kuchen ist im Nu verzehrt. Vor lauter Anteilnahme mit den Armen und Geächteten, ach, das war wohl bei Robin Hood, na egal, Sie verstehen sicher, was ich meine, also vor lauter Mitgefühl, da futtert man eben auch doppelt soviel in sich rein.“ Vor den Westfrauen, die mit den Tücken der Warenwelt aufgewachsen waren, kamen die Kataloge. Aus ihnen lernte Frau Suszek und die anderen das Wort catsuit. Als der Fummel geliefert wurde, lernten sie den Unterschied zwischen sich und einem Modell. Noch so eine Falle, in die gegangen zu sein, sie nicht verwinden können. „Ich würde mir ins Knie beißen, wenn ich abnehmen würde. Schon aus Gnatz, ständig diese Regenschirme vorgesetzt zu bekommen. Die kriegen zwar den Mund nicht auf, aber jeder richtet sich danach“, sagt Stuchlik.

Aus Sorge, ihre Töchter könnten Lachen, Schnauze und Appetit verlieren, treten die älteren Frauen vielleicht um so lauter auf. Eigenartig nur, daß aus den lebensklugen Beobachtungen nur Fassaden aufgerichtet werden – hinter denen man verborgen ein Ost-West-Gefälle am Leben erhält, das dem Blade-Runner-Szenario vom Kampf des besseren Menschen gegen die besseren Maschinen gleicht. Bei aller Rücksicht auf das Trauma und die desolate Lage in Frankfurt (Oder): Warum heißt „Frauen helfen Frauen“, daß man sich die Melancholie vererbt wie Tafelsilber? „Es ist doch alles kaputt gegangen!“ ruft Frau Senf, die ihre Arbeit in der städtischen Energieversorgung verlor. „Wir haben viel gelernt, aber es hat uns nichts gebracht!“ ruft Frau Lipinski, die früher Sozialarbeiterin war. Zuletzt spricht Frau Puhlmann noch einmal. Als Ingenieur, sagt sie, hat sie früher lieber Frauen über 35 Jahren eingestellt, weil die „jungen Muttis“ oft nicht zur Arbeit kamen. Über die gefälschten Ergebnisse ihres Betriebs hat sie nur gelacht. Sie hat gesehen, sagt sie, daß die DDR soziale und wirtschaftliche Fehler gemacht hat. Unter den Folgen muß die Rentnerin nicht mehr leiden. Es gibt Bekannte, Freunde, Enkel, Reisen, Konzerte, den Stammtisch und die Vorabendserien. „Ich muß mich nicht mehr um das Geld kümmern, ich kann in meinen Garten gucken, und trotzdem fehlt mir irgendwie so ein Pünktchen im Leben“, sagt Frau Puhlmann. „Mir fehlt ein Pünktchen Glück, diese Freudigkeit, so ein Ziel, verstehen Sie?“

Henrike Thomsen, 29, arbeitet als freie Kulturreporterin in Berlin.

Literatur: Sigrid Suszek: „Am Ende ist Anfang. Geschichten aus dem Lebenswandel“.

Fouqué-Verlag, 1998; Konrad-Adenauer-Stiftung (Hg.): „Weibliche Lebensstile in West- und Ostdeutschland“. Studie 140/1998