■ Aus dem Tagebuch von Wam Kat
: Nach dem Krieg ist vor dem Krieg

Der Friedensaktivist Wam Kat ist seit Anfang Mai in Albanien unterwegs, im Internet veröffentlicht er sein Tagebuch. Man kann es im (englischen) Original abonnieren mit einer Mail an major-demoecn.de, Text: „subscribe I-diary“, oder unter www.ddh.nl.org/balkansunflower online nachlesen.

Tirana, 3. Juli: Im Holländischen haben wir die Redewendung, daß die Ratten das sinkende Schiff verlassen. Mit Ratten möchte ich die Flüchtlinge aus dem Kosovo nicht vergleichen, aber auch sie verlassen ein sinkendes Schiff. Recht und Ordnung sind in diesem Land völlig zusammengebrochen, falls sie jemals weit entwickelt waren. Plünderungen und Diebstahl in den Lagern, Raub an den Flüchtlingen, Mord und Totschlag zwischen den Mafiabanden scheinen das ganze Land zu überziehen.

Fünf Wochen haben wir in dem Lager Mullet gearbeitet, das in dieser Zeit ein Ort der Ruhe und des Friedens geworden ist. Die Sicherheit verbesserte sich, die Soldaten begriffen allmählich, daß sie zum Schutz hier waren. Jetzt ist das Lager leer, die Art und Weise aber, in der es geleert wurde, war nicht so friedlich. Die Armee übernahm die Kontrolle. Als erstes durfte das Lager niemand mehr betreten, der hier gearbeitet hatte, zunächst auch nicht die Mitarbeiter der norwegischen Organisation People Aid, die es betreut hatten. Nach einer etwa viertelstündigen Diskussion wurde es ihnen dann doch erlaubt. Die Armee war schon dabei, einfach alles aus dem Vorratslager herauszuschleppen. So etwas hatten die Norweger zwar vorausgesehen und die wertvollen Dinge in Sicherheit gebracht für den Fall, daß sie das Lager plötzlich schließen müßten. Trotzdem war noch genug übrig, und sie durften nun zusehen, wie die Soldaten die Toiletten abmontierten, Kupferrohre, Heißwassertanks, und auch den Stromgenerator aufluden.

Schließlich entdeckten sie ein paar Mitarbeiter des UNHCR, die nachprüften, welche Flüchtlinge wann ins Kosovo zurückgebracht werden sollten. Die norwegischen Helfer wollten sie um Hilfe bitten, wurden aber von Gewehrläufen daran gehindert, die auf ihren Kopf zielten. Der kommandierende Offizier verlangte die Schlüssel für ihr Büro und ihren Wagen. Sie weigerten sich. Der Kommandant ließ seine Soldaten die Gewehre nachladen und befahl, wieder auf die Köpfe der Helfer zu zielen und zu schießen, falls diese die Schlüssel nicht herausrückten.

Das taten sie natürlich. Sie wurden in Ruhe gelassen und konnten mit den Mitgliedern des UNHCR sprechen, die sofort in Tirana anriefen. Eine halbe Stunde später kam der offizielle UNHCR-Vertreter mit dem Leiter der norwegischen Hilfsorganisation an. Wieder lange Diskussionen, im Hintergrund redete auch einer der Offiziere auf die anderen ein – offenbar wegen der Plünderungen. Die anderen machten weiter und luden alles, was nur irgendwie wertvoll aussah, auf ihre Laster. Nach einer halben Stunde bekamen die Helfer ihren Autoschlüssel zurück, doch sobald der UNHCR-Vertreter gegangen war, begann alles wieder von vorne. Erst als er wieder zurückkehrte, bekam auch er die Schlüssel zurück und erhielt die Erlaubnis, alle noch verbliebenen etwa 150 Flüchtlinge in das Lager Hamailay 2 in der Nähe von Kukäs zu überführen.

Zufällig habe ich den Leiter des Lagers heute in der Stadt getroffen. Er hat sich noch immer nicht von seinem Schock erholt. Auch in Hamailay hörte er nachts überall Gewehrschüsse. Das war zuviel für ihn, er will so bald wie möglich nach Hause. Angesichts solcher Zustände glauben viele, daß es auch für die Flüchtlinge sicherer sei, in das Kosovo zurückzukehren. Ein Widerspruch in sich, denn das Kosovo ist nicht sicher, es wird nur für sicher erklärt, weil es sonst unmöglich wäre, alle diese Menschen zurückzutransportieren. Aber weder die albanische Armee noch private Schutzdienste können für ihre Sicherheit sorgen, und die Nato-Truppen haben keinen Auftrag, Flüchtlinge in den Lagern zu schützen. Ich weiß nicht, ob solche Nachrichten in den Westen dringen. Sind alle Zeitungen und Fernsehsender blind? Sind sie so glücklich darüber, daß die Leute nach Hause zurückkehren, daß sie einfach nicht sehen können, was hier wirklich vorgeht?

Oder sind wir in den westlichen Ländern einfach nur froh darüber, daß die Krise vorbei ist und wir das Kapitel Albanien schließen können, bevor die nächste internationale Krise ausbricht? Ich weiß nicht, wozu hier so viele Nato-Truppen stehen, wenn sie nicht einmal die Lager und Raststationen auf den Straßen ins Kosovo sichern können. Vor welcher Konfrontation fürchten sich die Nato-Politiker? Jeder humanitäre Helfer kann mit eigenen Augen sehen, was hier los ist. Aber nichts wird dagegen wirklich unternommen – es wird Zeit, daß jemand das laut ausspricht.

Es macht mich zornig. Wie sollen denn selbst Politiker ihre hier stationierten Truppen in Marsch setzen, wenn die Medien zu Hause nichts über die albanische Wirklichkeit berichten? Nicht einmal die albanischen Zeitungen berichten darüber. Oft schon habe ich geschrieben, daß sich die wirklich interessanten Geschichten nicht im Zentrum einer Krise ereignen, sondern an ihren Rändern. Vielleicht sind das keine Sensationen, vielleicht reicht es höchstens für die Seite 4, trotzdem ist es die Wirklichkeit. In diesem Tagebuch habe ich früher notiert, daß die Flüchtlinge Albanien Stabilität gebracht haben. Jetzt stellt sich die Frage, wie weit Albanien wieder zurückfallen kann. Ich liebe dieses Land wirklich, und es tut mir leid. Wam Kat