„Keine Gegend gefällt mir“

Heimatloser Drogenreisender: Henri Michaux war Schriftsteller und ein dem Surrealismus verwandter Maler, der die Geheimnisse der Sprache liebte. Zu seinem hundersten Geburtstag zeigt die Galerie Georg Nothelfer Aquarelle und Zeichnungen  ■   Von Detlef Kuhlbrodt

Vor hundert Jahren wurde Henri Michaux in der belgischen Kleinstadt Namur geboren. Interessant, daß er am 24. 6., dem gleichen Tag wie Rainald Goetz und Bob Dylan, Geburtstag hat.

Als Kind schon fühlt sich der Dichter und Maler nicht sonderlich heimisch in der Welt: „Teilnahmslosigkeit, Appetitlosigkeit. Widerstand, Desinteresse. Er meidet das Leben, die Spiele, die Zerstreuung und die Abwechslung. Abscheu vor Nahrung, Gerüchen, Kontakten.“ Die Mutter wünscht sich, er sei nie geboren worden, der Vater, ein reicher Huthändler, hat als einziges Ideal „sich zurückzuziehen“, der Sohn schwankt, ob er Mönch oder Arzt werden soll, beginnt Medizin zu studieren, tritt zur Prüfung nicht an, und bricht statt dessen 1920 als Matrose zur großen Fahrt nach Südamerika und Asien auf. Zwischen 1927 und 1937 ist er fast ununterbrochen unterwegs. Angeregt von Lautréamont, beginnt er 1922 zu schreiben, beeindruckt von den Bildern de Chiricos, Max Ernsts und Paul Klees, fängt er auch mit dem Malen an. Die Malerei war für ihn „das andere Fenster“, mit dem er die Welt wiederfinden wollte.

Der mißmutig-lakonische, stets skeptisch-distanzierte Ton seiner Reiseberichte stimmt irgendwie heiter. „Keine Gegend gefällt mir: So ein Reisender bin ich.“

So schrieb er dann Bücher über Reisen in Länder, die er sich ausgedacht hatte und begab sich auf drogenunterstützte (Opium, Äther, Haschisch, Meskalin) Expeditionen in innere Welten. In den sechziger Jahren kam er als Drogenautor zu Ruhm (u.a. „Unseliges Wunder – Das Meskalin“), fertigte unter dem Einfluß von Meskalin zittrige Zeichnungen. Wie Unica, die sich in ihn verliebte, stand er am Rande des Surrealismus und starb vereinsamt am 17. Oktober 1984 in Paris.

Ihm zu Ehren zeigt die Galerie Georg Nothelfer eine Auswahl der Bilder, die Michaux zwischen 1943 und 1984 malte und zeichnete. Es gibt Aquarelle, Zeichnungen, Lithographien, Radierungen, allesamt ohne Titel. Manchmal denkt man beim Gucken an Bilder aus der Prinzhorn-Sammlung.

Wenig ist gegenständlich, wie die mit ein paar Pinselstrichen wie Bindfäden skizzierten, auf dem Papier schwebenden Gesichter. Der irgendwie schüchtern-irritierte Ausdruck auf einem Aquarell von 1970 hat sich längst vom Gesicht und dessen Körperlichkeit gelöst und irrt heimatlos durch die Welt mit einem Gefühl, das nie einen Namen hatte. Irgendwo hängt eine Prozession seltsamer Strichgestalten und Kreuze vor einem diffus surrealen Hintergrund.

Die ungegenständlichen Bilder sind weit davon entfernt, abstrakt zu sein. Im Gegenteil. Diese wimmelnden schwarzen Flecke auf einigen Bildern zum Beispiel, die manchmal an Rorschach-Tests erinnern, scheinen auf eine Zeit zu zielen, die vor der fertigen Form liegt. Oder die Form, die man sich angewöhnt hat zu sehen, wenn man sich etwa umguckt und da ein Sofa steht, unterliegt selbst immer schon den Vorgaben einer konventionellen Interpretation, ist also Abstraktion, die uns beim Fernsehen hilft.

In Asien hatte sich Michaux auch mal wohl gefühl. Einige Tuschzeichnungen auf Japanpapier erinnern an asiatische Kalligraphien. Auf den 12 Blättern einer „Parcours“ betitelten Mappe von 1966 stehen in dichten, strengen schwarzen Schriftlinien die Zeichen und Worte einer unbekannten, geheimen Sprache, in der Zeichen und Bezeichnetes zusammenfallen, vielleicht auch zusammenbrechen. Da stehen gespenstisch formelhafte Tuschmännchen, mal eng, mal deutlich voneinander abgegrenzt; Kolonnen schwer zu bändigender, manchmal winziger Zeichen; Sprache vor der Sprache, penible Zeichen nervös vibrierender Nerven.

Michaux, dem sein Körper als Kind schon fremd war, hatte „ein vom Wort befreites“ Bild-Schreiben erfinden wollen. „Seine Bilder, nahe daran zu sprechen, schweigen“ (Octavio Paz) wie der Chinese in einem der Reisebücher Michaux: Man fragt ihn nach einer Auskunft, „und schon macht er sich aus dem Staub. ,Das ist ratsamer‘, denkt er. ,Sich nicht in die Angelegenheiten anderer einmischen. Mit Auskünften fängt es an. Mit Schlägen endet es.‘ “

Henri Michaux zum 100. Geburtstag. Arbeiten von 1943 – 1984, bis 15. 7., Di. – Fr. 14 – 18.30, Sa. 10 – 16 Uhr; Galerie Georg Nothelfer, Uhlandstr. 184.

Die Malerei war für ihn das „andere Fenster“, mit dem er die Welt wiederfinden wollteTuschmännchen stehen wie Kolonnen schwer zu bändigender, manchmal winziger Zeichen