„Wir bestreiten nicht die Schuld“

■ Alterspräsident Paul Löbe (SPD) hielt die erste Bundestagsrede

Die konstituierende Sitzung begann am 7. September 1949 um 16 Uhr und 5 Minuten mit der Ouvertüre „Weihe des Hauses“, Opus 124, von Ludwig van Beethoven.

[...] Meine Damen und Herren! Der Zufall hat es gefügt, daß ich als Alterspräsident von Ihnen stehe als einer der Vertreter der alten deutschen Hauptstadt Berlin. In der Entsendung der Berliner Abgeordneten kommt der einhellige Wunsch seiner Bewohner zum Ausdruck, in dieses neue Deutschland einbezogen zu sein, und die Hoffnung, daß dieser Wunsch durch Ihre Arbeit bald seine Erfüllung finde. (lebhafter Beifall)

[...]Aber nicht minder hoffnungsvoll, ich möchte sagen, Erlösung heischend, sind heute die Augen jener Millionen deutscher Landsleute auf uns gerichtet, die in den deutschen Ostgebieten wohnen und deren Vertretern Besatzungsmacht oder fremde Verwaltung gewaltsam verwehrt, mit in diesem Saale zu sitzen und mit uns zu beraten. Indem wir die Wiedergewinnung der deutschen Einheit als erste unserer Aufgaben vor uns sehen, versichern wir gleichzeitig, daß dieses Deutschland ein aufrichtiges, von gutem Willen erfülltes Glied eines geeinten Europa sein will. (Bravorufe und Händeklatschen)

[...] Uns bewegt nicht, wie es früher geschehen ist, der Gedanke an irgendeine Form von Vorherrschaft; wir wollen mit allen anderen gleichberechtigt in den Kreis der europäischen Nationen treten. (Erneuter lebhafter Beifall)

[...] schweifen die Gedanken von uns Älteren zurück zu jener letzten Sitzung des Deutschen Reichstages in der Berliner Krolloper, der wir beiwohnten und in der durch das Hitlersche Ermächtigungsgesetz die staatsbürgerlichen Freiheiten für lange Jahre begraben wurden. Das war ein illegaler Akt, durchgeführt von einer illegalen Regierung. Der Widerstand dagegen war eine patriotische Tat. (Zurufe: sehr richtig! – Abg. Reimann: Wie viele Abgeordnete sitzen hier, die dafür gestimmt haben? )

[...] Meine Damen und Herren! Wir werden es nicht schaffen aus eigener Kraft allein. Wir werden – geben wir uns keinem Irrtum darüber hin – dabei noch lange der Beihilfe des Auslandes bedürfen. Wohlgemerkt: nicht in der Form und im Sinne von Almosen, sondern für den Aufbau unserer Wirtschaft, damit wir aus eigener Arbeit die Grundlagen unserer Existenz finden. Ich habe die Zuversicht: unser arbeitsames, tüchtiges, ordnungsliebendes, leider politisch so oft irregeführtes Volk wird es schaffen! (Lebhafte Bravo-Rufe und Händeklatschen)

[Wir] bestreiten auch keinen Augenblick das Riesenmaß von Schuld, das ein verbrecherisches System auf die Schultern unseres Volkes geladen hat. Aber die Kritiker draußen wollen doch eines nicht übersehen: Das deutsche Volk litt unter zwiefacher Geißelung. Es stöhnte unter den Fußtritten der eigenen Tyrannen und unter den Kriegs- und Vergeltungsmaßnahmen, welche die fremden Mächte zur Überwindung der Naziherrschaft ausgeführt haben. [...]

Es sind auch Vorwürfe erhoben worden, weil das deutsche Volk sich nicht gegen den nationalsozialistischen Terror zur Wehr gesetzt habe. Wenn ich Ihnen sage, daß allein von den 94 sozialdemokratischen Abgeordneten, die gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt haben, da sie sich zu jener Zeit noch in Freiheit befanden, 24 ihren Widerstand mit dem Leben bezahlt haben ... (die Abgeordneten erheben sich von den Sitzen) ... wenn Sie bedenken, welche Opfer ... (Unruhe. – Zuruf rechts: Auch von anderen Parteien sind Opfer gebracht worden; wir wollen keine Rechnungen aufmachen! – Weitere Zurufe rechts und von den Kommunisten)

Meine Herren, lassen sie mich nur weitersprechen. Wäre nicht die Unterbrechung erfolgt, so hätte ich das sowieso erwähnt. Wenn Sie bedenken, daß große Opfer auch von der kommunistischen Fraktion gebracht worden sind, aber auch von Mitgliedern des früheren Zentrums und von Abgeordneten bis in die Rechtsparteien hinein, dann wird sich ergeben, daß auch dieser Vorwurf nicht aufrechterhalten werden kann. [...]

Es braucht nicht niederreißende Polemik, sondern aufbauender Tat, [...] damit wir uns auch die Achtung für unser deutsches Volk in der Welt draußen zurückgewinnen. [...]

Der Sozialdemokrat Paul Löbe (1875-1967) war von 1920 bis 1933 im Deutschen Reichstag und von 1924 bis 1932 dessen Präsident. 1933 und 1944 wurde er von den Nationalsozialisten inhaftiert. Quelle: Protokoll der 1. Sitzung des Deutschen Bundestages