Und nachts kommt das Paramilitär

Kolumbiens Magdalena-Region wird erbittert umkämpft. Tausende Menschen, zumeist Kleinbauern, fliehen vor der Gewalt. Zumeist enden sie im Elend der Randbezirke der völlig überlaufenen Metropolen des Landes  ■   Von Ralf Leonhard

Raúl Antonio Carmona ist müde geworden. Dieses Mal hat das Schicksal den 63jährigen nach Yondó verschlagen, ein Fischer- und Bauerndorf am Mittellauf des Magdalena-Flusses. Dreimal ist er in seinem Leben schon vertrieben worden, und die Kraft für einen Neuanfang ist ihm abhanden gekommen. Der Bauer sitzt in einer Gruppe von Flüchtlingen, die sich im Schatten eines Baumes niedergelassen haben.

Jeder hier hat eine dramatische Geschichte zu erzählen. Livia Rosa Hernández, die einen Überfall der gefürchteten paramilitärischen Gruppen miterlebt hat, ist mit dem Schrecken davongekommen: „Die Genossenschaft haben sie zerstört und die Frau aus dem Werkzeuggeschäft verschleppt. Zwei Tage später hieß es, Paramilitär hätte sie umgebracht. Ich bekam Angst und wollte auch nicht mehr dort bleiben.“

Von Yondó wollen die Vertriebenen vorerst nicht weg. Wohin auch? Nach Hause zurückkehren können sie nicht, und in Kolumbien gibt es kaum ein fruchtbares Gebiet, das nicht von politisch motivierter Gewalt heimgesucht wird. Raúl Carmona und die anderen Flüchtlinge sind auf die Unterstützung von Hilfsorganisationen angewiesen, denn das Land hier ist längst verteilt und Arbeit schwer zu finden.

In dem Flußhafen Barrancabermeja, der Anfang der zwanziger Jahre von Ölmagnaten am gegenüberliegenden Ufer gegründet wurde, ist fast jeder fünfte der 250.000 Einwohner ein Vertriebener. Flucht vor Krieg und Gewalt ist kolumbianischer Alltag: Im ganzen Land werden Jahr für Jahr weit über eine Viertelmillion Kolumbianer zu Binnenflüchtlingen. Sie sind Opfer von wirtschaftlichen und politischen Interessen.

Der Rio Magdalena, der sich über mehr als 1.500 Kilometer von den Andenhöhen im Süden bis zur karibischen Küste hinzieht, ist eine der wichtigsten Verkehrsstraßen des Landes. Ehemals war der Magdalena Medio, das Land um den Mittellauf des Flusses, eine schwer zugängliche und von Urwald geprägte Region. Aus anderen Landesteilen verdrängte Kleinbauern siedelten sich hier an. Dann fand man zunächst Öl, später auch bedeutende Kohle- und Goldvorkommen. Die Konflikte zwischen den Bauern und Unternehmern, die das Land zur Viehzucht aufkauften und begannen, afrikanische Ölpalmen in Plantagenwirtschaft anzubauen, verschärften sich, als Anfang der 90er Jahre die „Troncal“ gebaut wurde. Diese Straße band das Gebiet an die Industriezentren in den Andenkordilleren an. Über Nacht verzehnfachten sich die Grundstückspreise.

Wie die Transamazônica, die im brasilianischen Amazonasgebiet die systematische Umweltvernichtung und Ausrottung der indianischen Bevölkerung ausgelöst hat, steht auch diese Urwaldtraße für den Anfang einer fatalen Entwicklung. Die beiden traditionellen Parteien Kolumbiens, Liberale und Konservative, propagierten schon vor Beginn der Bauarbeiten eine regelrechte Goldrauschstimmung, die allerdings nicht ohne Widerspruch blieb. Seit Mitte der 80er Jahre trat dagegen die linke Unión Patriótica an, die in mehren Gemeinden die Kommunalwahlen gewann und Bürgermeister stellen konnte. Die neue Partei war ein Testballon der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (Farc), der größten und ältesten Guerillaorganisation des Landes. Doch ihr Erfolg währte nicht lange: Mehr als 5.000 Mitglieder fielen landesweit Todesschwadronen und Attentaten zum Opfer. Fast keiner dieser Morde wurde ernsthaft untersucht, geschweige denn aufgeklärt. Für einen Mitarbeiter eines von Jesuiten gegründeten Projekts für Frieden und Entwicklung, der seinen Namen lieber nicht veröffentlicht sehen will, ist klar, wer hinter den Verbrechen steckt: „Diejenigen, die hier immer das Sagen hatten, sind nicht bereit, diese Macht abzugeben oder am Verhandlungstisch zu verspielen.“ Heute ist der reiche Magdalena Medio eine der am meisten umkämpften Regionen. Hier operieren nebeneinander die Farc und die zweitgrößte Guerillaorganisation, das Nationale Befreiungsheer (ELN). Mehrere Gemeinden stehen unter dem Einfluß des Paramilitärs, die Ölförderanlagen werden von der Armee beschützt.

Mit dem schnellen Passagierboot ist man von Barrancabermeja in einer Stunde im flußabwärts gelegenen Puerto Wilches, einer schnell wachsenden Gemeinde, wo fast täglich neue Vertriebene eintreffen. Die Mittagssonne brennt schonungslos auf das Dach aus Palmblättern, unter dem sich eine Gruppe von Vertriebenen versammelt hat, um zu beraten, wie die Flüchtlinge effizienter versorgt werden können. Wichtig ist, daß sie von den Behörden als „desplazados“, als Vertriebene, registriert werden. Damit haben sie Anspruch auf ein Mindestmaß an Unterstützung und kostenlose medizinische Versorgung.

Noch fühlen sich die Bauern in Puerto Wilches sicher. Aber die Ruhe im Dorf täuscht: Ein Gewerkschaftsführer, der am Vorabend verschleppt wurde, wird ermordet aufgefunden. Die Gewerkschaftsaktivisten stehen fast alle auf den schwarzen Listen der paramilitärischen Todesschwadronen, die, so behaupten viele, der kolumbianischen Armee die schmutzige Arbeit abnehmen. Es sind Banden, die meist von Kaufleuten, Viehzüchtern oder anderen Großgrundbesitzern bezahlt werden. Doch sie schützen nicht nur deren Eigentum gegen die Guerilla, sondern betrachten sich als verlängerten Arm der Staatsgewalt.

Den Militärs, die selbst wegen systematischer Menschenrechtsverletzungen unter Beschuß stehen, kommen sie wie gerufen. Graffiti an den Wänden von Barrancabermeja fordern, daß Armeeoffiziere für das Massaker zur Verantwortung gezogen werden, das eine paramilitärische Gruppe am 16. Mai des Vorjahres in einem Außenbezirk verübte. In unmittelbarer Nähe befinden sich zwei Armeestützpunkte. Der eine schützt ein Kraftwerk, der andere eine Ölquelle. Am Tage des Verbrechens waren Soldaten den ganzen Tag lang in dem Viertel patrouilliert – kaum waren sie verschwunden, kamen die schwerbewaffneten Maskierten. 32 Menschen wurden damals abends aus ihren Häusern zusammengetrieben, sieben davon an Ort und Stelle ermordet. Die restlichen 25 bleiben bis heute verschwunden. Für den Mitarbeiter des Jesuitenprojektes, war der Terrorakt Teil einer langfristigen Strategie. Durch Einschüchterung solle jede Art sozialer Organisation unterbunden werden: „Die Paramilitärs behaupten zwar, die Opfer seien Guerilleros gewesen. Aber wenn man ihre Familien kennt, dann stellt man fest, daß ganz gewöhnliche Mitbürger verschleppt wurden. Unbewaffnete Zivilisten.“ Die umfangreichen in der Region getätigten Investitionen, meint er, „vertragen sich einfach nicht damit, daß sich die Bevölkerung hier organisiert, über Menschenrechte Bescheid weiß und für deren Einhaltung eintritt – daß sie einen eigenen Entwicklungsweg sucht.“

Den Flüchtlingen, die in ihrer Region bleiben und so etwas wie einen Zusammenhalt der Nachbarschaftsstrukturen bewahren können, geht es noch vergleichsweise gut. Jene, die in die großen Städte ziehen, landen in den ständig wachsenden Slums der Peripherie. In Bogotá finden Zuwanderer in Ciudad Bolivar Platz, einem Bezirk im äußersten Süden der Metropole, der allein schon mehr als 1,5 Millionen Einwohner zählt. Da die Ebene keinen Platz mehr bietet, sind die Elendsviertel die Hügel hinaufgewachsen. Je höher, desto jünger der Stadtteil und desto erbärmlicher die Lebensumstände. Altos de Cazuká heißt das Viertel, das auf dem Rücken der Anhöhe, rund 3.000 Meter über dem Meeresspiegel, entstanden ist. Der Marktplatz, auf dem die Busse wenden, bietet einen beeindruckenden Blick über die Achtmillionenstadt. Von hier bis ins Zentrum, dessen Wolkenkratzer nur mit Mühe zu erkennen sind, benötigt der Bus eine Stunde. Der Norden dagegen, wo die Reichen sich mit eleganten Restaurants, teuren Privatschulen und modernen Einkaufstempeln umgeben, verschwindet im Dunst. Die Leute in Altos de Cazuká kennen die Stadt, in der sie sich niedergelassen haben, kaum. Hier sind alle entwurzelt. In den Häusern, die meisten noch Rohbauten ohne festen Boden, findet man Familien aus verschiedenen Landesteilen. Einige haben selbst gebaut, andere zahlen Miete an einen Hausherrn, der schon in ein besseres Viertel umgezogen ist. Die Ärmsten wohnen zur Untermiete, oft acht Personen in einem Zimmer, in dem gerade zwei Betten Platz haben.

Auch Augustina López mußte flüchten. Sie kommt aus dem südkolumbianischen Putumayo, einem Urwaldgebiet im Amazonasbecken. Dort war sie in Schwierigkeiten geraten, weil sie versäumt hatte, an einer Mobilisierung der Guerilla teilzunehmen. Sie mußte eine Tochter zum Arzt bringen und wurde trotz der Erlaubnis eines Comandante verdächtigt, mit der Armee zusammenzuarbeiten. Gemeinsam mit ihrem Mann hatte sie in ihrer Heimat Koka angebaut. In den feuchtheißen Wäldern am Äquator, weitab der Verkehrswege, ist kein anderes Agrarprodukt rentabel. Guerilla und Kokabauern leben dort seit langer Zeit in einer Symbiose. Die Guerilla kassiert Steuern von den Zwischenhändlern, die die Kokapaste kaufen, und beschützt die verbotenen Plantagen gegen die Drogenpolizei. Als Gegenleistung verlangt sie von den Bauern absoluteLoyalität.

Santos Orozco baute auf seinem Grundstück in Tolima, westlich von Bogotá, durchaus legale Produkte an: Kaffee, Kakao, Zuckerrohr, Bananen, Maniok, Bohnen. Dann kamen die Soldaten: „Sie blieben drei oder vier Tage. Ich konnte ihnen nicht sagen, sie sollten gehen. Später kam die Guerilla und verdächtigte mich, mit der Armee zu kollaborieren. Ein anderes Mal machte die Guerilla Station auf meinem Land, und dann beschuldigten mich die Militärs, für die Guerilla zu arbeiten. Als Campesino ist man schutzlos ausgeliefert.“ In der Stadt werden die Bauern zu Sozialfällen, und die Verzweiflung treibt viele zu illegalen Geschäften. Die meisten Eltern schicken ihre Kinder in die Stadt „arbeiten“. Schon Sechsjährige singen in Bussen für ein paar Münzen herzzerreißende Lieder oder verkaufen geröstete Erdnüsse. Die älteren werden von der Polizei als „gamines“, als Straßenjungen, aufgegriffen und kriminalisiert, noch bevor sie ihre erste Straftat begangen haben.

Der sozialen Katastrophe, die die Vertreibungen ausgelöst haben, folgt das ökonomische Desaster auf dem Fuße. Die Landflucht, die in Kolumbien ohnehin weit fortgeschritten ist, wird durch die politische Gewalt noch beschleunigt. Zwei Drittel der Grundnahrungsmittel müssen bereits aus den billiger produzierenden Nachbarländern Ecuador und Venezuela importiert werden.

Ein Hoffnungsschimmer sind die sich anbahnenden Friedensverhandlungen zwischen Regierung und Guerillas. Die jedoch werden Jahre dauern, weil die Rebellen ökonomisch unabhängig sind und der Krieg für sie zum Modus vivendi geworden ist. Viele der Kämpfer sind in der Guerilla aufgewachsen – ein anderes Leben können sie sich nur schwer vorstellen.

Im ganzen Land werden Jahr für Jahr weit über eine Viertelmillion Kolumbianer zu Binnenflüchtlingen