„Körper machen Leute“

■  Basteln am eigenen Leib: In den Siebzigern wurde nach der „wahren Natur“ des Körpers gesucht, in den Neunzigern ist er Rohstoff, den es zu gestalten gilt. Die Soziologin Gabriele Klein über Tanz, Tattoos und elektronische Vibrationen

taz: Sie sind Soziologin und ehemalige Tänzerin. Wie wichtig war die Tanzerfahrung für Ihre Theorie der elektronischen Jugendkultur?

Gabriele Klein: Vom Alltagsverständnis her war für mich von Anfang an klar: Techno, das ist vor allem eine Tanzbewegung. Ich habe mich gefragt, warum das nicht thematisiert wird. Warum schreiben Berichterstatter: Die wollen ja alle „nur“ tanzen? Und können es nicht mal! Die hoppeln und zappeln da rum, und es wirkt, als hätten sie epileptische Anfälle. Das war der Ausgangspunkt. Bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Techno habe ich dann gemerkt, daß es große Leerstellen im popkulturellen Diskurs gibt, und mich gefragt: Was passiert, wenn man die Körperperspektive einnimmt?

„Electronic Vibration“ ist ein Versuch, den Körper wieder in die Theorie hineinzutragen. Wer hat ihn ausgeschlossen?

Man könnte sagen: Männer machen den Diskurs. Und Männer können oft nicht tanzen. Aber das ist uninteressant. Die Leerstellen in der Theorie gehören zu einer kulturkritischen Debatte, die sich durch das gesamte Jahrhundert zieht. Neu ist der Versuch, den Körper wieder darin zu verorten. Pierre Bourdieu etwa sieht das Verhältnis zur sozialen Welt im Verhältnis zum eigenen Leib begründet. Aber er hat seine Überlegungen nicht auf den Umgang mit Kulturindustrie bezogen. Was Techno anbelangt, herrscht die Auffassung vor: Die Jugendlichen inszenieren ihren Körper bloß noch, da wird ja nur noch was angezogen. Das ist ein sehr verkürztes Körperverständnis, das auf den Naturkörper hinauswill, aber vergißt, daß dieser selbst ein kulturelles Konstrukt ist.

Sie fassen Techno-Jugendliche als „symbolische Konstrukteure“, die sich eine Identität basteln. Ersetzt das nicht einfach die kulturpessimistische Sichtweise durch wohlwollendes Schulterklopfen im Geiste der Cultural Studies?

So möchte ich das nicht verstanden wissen. Die Cultural Studies haben uns gelehrt, gegen die These von der Übermacht der Kulturindustrie anzudenken, sie haben den Blick auf die Seite der Rezeption gelenkt, auf das, was in der symbolischen Aneignung passiert. Mir geht es aber nicht darum zu sagen: Mensch, die Raver sind doch ganz schön kreativ, wenn sie ihre Plüschbikinis nähen oder für die Love Parade einen Wagen schmücken. Technokultur ist nur ein Beispiel für Veränderungen, die auch andere gesellschaftliche Felder betreffen.

Deswegen so viele Love-Parade-Trittbrettfahrer – vom Kultursenator bis zur Jungen Union.

Insgesamt ist das öffentliche Interesse eher erlahmt. Jahrelang wurde gefragt: Was sind das für Leute, was wollen die? Haben die politische Ideen? Visionen? Inzwischen hat die Veranstaltung sich im urbanen Raum etabliert, und das Thema ist bloß noch: Wie stellen sich die Stadt und ihre Organisationen darin dar. Ob das Mediamarkt ist oder CDU macht da kaum einen Unterschied: Wagen ist Wagen.

Es geht um Imagetransfer.

Um Imagetransfer, Offenheit, es geht um Berlin als Gastgeber für die Jugend Europas – eine Position, in der London seit den sechziger Jahren ist. Deshalb ist es so peinlich, wenn die Love Parade immer noch vor allem als Müllproblem verhandelt wird.

Sie sehen in den großen Techno-Umzügen eine Gegenbewegung zur Zerstörung von Urbanität: Das alte Welttheater kehrt auf der Bühne der Straße wieder.

Es handelt sich zumindest um eine Bewegung, die mit den Städten der Gegenwart umzugehen versucht. Mit Städten, die von ihrem Konzept her so ausgelegt sind, daß öffentliche Räume im wesentlichen Funktionszusammenhänge zwischen zwei Orten, also Nichtorte sind. Ob das genügt, den Verlust an Öffentlichkeit im Endeffekt wettzumachen – darüber kann man sich lange streiten. Aber es herrscht ein Element von Urbanität darin vor, von gelebter Stadt und Lebenslust.

Ist die Techno-Bewegung im Kern romantisch: Körper, die in der Mediengesellschaft vor Bildschirmen verkümmern, inszenieren sich öffentlich und massenhaft?

Das klingt, als ginge es um den letzten Aufschrei vor dem Verschwinden in der Information, der Medialität. Ich würde von einer anderen Prämisse ausgehen: Es gibt eine paradoxe Entwicklung des Körpers. Einerseits verschwindet er, andererseits taucht er in einem ganz extremen Maße wieder auf. Man muß heute keine schwere körperliche Arbeit mehr aushalten zur eigenen Reproduktion, man muß lernen, mit Bewegungslosigkeit umzugehen. Der Körper verschwindet als Arbeitskörper, als physische Kraft – und taucht als Freizeitkörper wieder auf. Als solcher wird er seit den Achtzigern interessant, wird er umdekoriert. Das beginnt mit Bodybuilding, mit Esoterik- und Körperbewußtseinsbewegungen auf der einen Seite, aber eben auch mit Partyspaß und der dazugehörigen Selbstinszenierung. Wenn Sie so wollen, gilt nicht mehr, wie im Frühkapitalismus, der Satz „Kleider machen Leute“, jetzt heißt es „Körper machen Leute“.

Raves sind mit einem festtäglichen Kirchgang verglichen worden. Wie religiös ist Techno?

Hans-Georg Soeffner, auf den Sie anspielen, hat das leider nicht ausgeführt, aber man kann es ja weiterdenken. Wenn wir in einer Zeit der Enttraditionalisierung leben, in der die Kirchen als Identitätsspender an Bedeutung verlieren, ist der Vergleich nicht abwegig: Was früher der Glaube gewährleistete – kollektive Erfahrung, kultische Erlebnisse, religiöse Ekstase –, läßt sich in der Szene wiederfinden. Über die Ritualisierungspraktiken im Rave könnte man ein Wochenende lang diskutieren, egal, ob man von „Tribes“ ausgeht oder von posttraditionalistischen „ästhetischen Gemeinschaften“. Die Frage ist ja: Wieso? Wieso sind diese Gemeinschaften so wichtig? Warum bilden sie sich in einer Form, die nur im Augenblick existiert? Wo nicht die Sehnsucht da ist: Ich möchte Freunde finden, das soll Kontinuität haben, Orientierung bieten – all das, was die Peer-groups der siebziger Jahre ausgemacht hat.

Ähnlich wie Klaus Theweleit gehen Sie von Unterschieden in der Art aus, wie Generationen mit Medien umgehen.

Es gibt drei Generationen, die 68er, die 78er und die 89er, die nicht nur verschiedene Entwürfe von Wirklichkeit haben, sondern auch verschiedene Körpermodelle „leben“. Für die 68er war das der „politische Körper“, das heißt, sie verstanden den Körper, die „freie Sexualität“, als verbunden mit dem politischen Kampf, zu dem die Befreiung sich funktional verhielt. Ganz anders die 78er-Generation, die den Diskurs über den „Naturkörper“ geführt hat, Stichworte: Ökologie, Laientanzbewegung, alternative Wohnformen. Das war fast eine Art Lebensreformbewegung, die das Politische darin suchte, die „wahre Natur“ des Körpers wiederzufinden. Die 89er sind, grob gesagt, diejenigen, die eine Art von Kunstkörper formulieren. Der Körper ist in diesem Verständnis Rohstoff, den es zu kultivieren gilt, den man nicht nur bearbeiten darf, sondern bearbeiten muß. Das können sehr massive Eingriffe sein: Tattoos, Piercing.

Es ist aber zugleich die Technik selbst, die in die Körper eingreift. Sie sprechen von „Synergieeffekten zwischen Körpern und Maschinen“.

Wenn man über Kultur spricht, lassen sich bestimmte Dualismen, mit denen bislang argumentiert wurde, nicht mehr aufrechterhalten. Es macht keinen Sinn, Ästhetik und Technik als einander gegenüberstehende Größen zu begreifen. Das betrifft nicht nur das Feld der Musikproduktion, wo das ja auch nichts Neues ist, ich meine die Ebene von Alltagspraxis. Wir haben uns daran gewöhnt, den Technologieschub in unserem Jahrhundert immer nur eindimensional unter dem Aspekt von Zweckrationalität zu betrachten, und sehen nicht, daß er auch von Lust und Spaß begleitet ist. Im Prinzip sind wir mit dieser Diskussion sehr rückständig. Man sprach früher von der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine. Die jetzige Generation zeigt, daß dieser Ort sich längst nicht mehr markieren läßt. Wir sind weit darüber hinaus.

Sie unterschlagen die Ambivalenz dieser Entwicklung. Was als Körperbefreiung erfahren wird, geht mit immer mehr Körperkontrolle einher.

Ich gebe Ihnen völlig recht, daß man darüber noch sehr viel nachdenken muß. Der Genuß hatte zwar schon immer einen festen Ort in der ästhetischen Theorie – aber eben als Ästhetik. Auf der Ebene von Fun hatte er dort nicht viel zu suchen. Die Frage ist: Was passiert auf der Ebene des Körpers? Der Bodybuilder, der ins Studio geht, glaubt ja nicht, daß er sich diszipliniert, für ihn ist es Lust und freier Wille. Wie kommt es also, daß auf der Ebene des Körpers bestimmte Formen von Sozialisation und Habitus bestimmte Geschmäcker ausbilden, innerhalb deren bestimmte Lüste favorisiert werden? Zum Beispiel gehören die Raver zu einer Szene, die die Informations- und Kommunikationsmuster der Mediengesellschaft produktiv nutzt. Bestimmte Arten quasi körperlichen Widerstands, die noch unsere Generation mit der Technik plagten, hat sie einfach nicht mehr. Ihr Körper ist bereits medialisiert.

Wenn Rock 'n' Roll die Musik des späten Industriezeitalters war und Techno die des elektronischen, wie kann man sich dann die Musik des Gen-Tech-Zeitalters vorstellen? Vibrierende Zellwände, tanzende DNA-Stränge?

Vielleicht wie Viren? Ich weiß es nicht. Es entspricht auch nicht meiner Art zu denken, daß etwas immer tiefer in das Individuum eindringt, es formt und manipuliert. Es gibt keinen Ausgangspunkt, kein autonomes Subjekt, es gibt auch keine konstante, lineare Entwicklung hin zu immer mehr Technik. Auch in der Techno-Musik gibt es jetzt wieder Gitarren, Gesang. Jürgen Laarmann, der „Erfinder“ der „ravenden Gesellschaft“, hat das so wunderbar ausgedrückt: Der Nachfolger von Techno wird Techno sein.

Interview: Thomas Groß