Pop heißt jetzt Plena

Un, dos, tres: Die Latinos sind los! Die dritte Musikmesse Midem Americas in Miami Beach präsentierte eine selbstbewußte lateinamerikanische Community  ■ Von Daniel Bax

Castro war allgegenwärtig. Jeder Besucher der Midem-Musikmesse, die diese Woche Miami Beach in Beschlag nahm, erhielt zusätzlich zu seinem Teilnehmerausweis eine zweite Plastikkarte mit seinem Konterfei um den Hals gehängt. Natürlich nicht das Gesicht Fidel Castros, des Unaussprechlichen, sondern das seines Namensvetters Christian Castro. Dessen Plattenfirma wollte damit auf das neue Album des mexikanischen Sängers, „Mein Leben ohne deine Liebe“, aufmerksam machen.

Christian Castro gehört zu der Sorte Musiker, der die lateinamerikanische Musik ihren ambivalenten Ruf verdankt: ein braver Blondschopf mit blauen Augen, dessen Aussehen weit eher im Gedächtnis haftenbleibt als seine seichten Schnulzen, die auch Julio Iglesias gut zu Gesicht stünden. Zum Glück gibt es nicht nur die schmalzige Sorte, sondern eine breite Palette lateinamerikanischer Musik, vom MTV-gefeatureten Latin Rock über Latino-Pop zu mexikanischem HipHop oder argentinischem Punk, ganz abgesehen von der schier unfaßbaren Zahl lokaler Stile und Rhythmen.

Auf der Midem vermischte sich das zum akustischen Potpourri: Salsa-Schönlinge in weißen Anzügen tänzelten mit schönen Frauen über die TV-Monitore, während Delegationen aus Jamaika, Mexiko oder Spanien ihre Messestände mit Mariachi, Merengue, Ragga und anderen regionalen Pop-Formen beschallten, ebenso die lateinamerikanischen Tochtergesellschaften der großen Musikkonzerne und kleinere CD-Verlage. Der amerikanische Ableger der französischen Midem-Gesellschaft, die weltweit Entertainment-Messen organisiert, zielt auf die potentielle Wachstumsregion zwischen Buenos Aires und New York und hielt zum nunmehr dritten Mal in Miami hof.

Trotz heftiger Querelen um die Anwesenheit von Musikern aus Kuba in der Kapitale der Castro-Gegner im vergangenen Jahr – die Latino-Hauptstadt des Nordens bietet sich als Standort förmlich an, schließlich sind hier nicht nur wichtige Medien wie MTV Latin America zu Hause, das vor Ort sein spanischsprachiges Schwesterprogramm für die transkontinentale Latino-Gemeinde produziert. Miami Beach bietet mit seiner pittoresken Art-deco-Kulisse in Neon und Pastell auch reichlich Flair und somit ein gediegenes Ambiente für eindrucksvolle Inszenierungen.

Eine solche Inszenierung fand an einem der Abende am Strand von Miami Beach statt. Dorthin lud der Label-Boß Chris Blackwell, in Fachkreisen gerühmt als „der Mann, der Bob Marley entdeckte“ oder zumindest als der, dessen Plattenfirma Island einst, in den siebziger Jahren, den weltweiten Siegeszug des Reggae in die Wege leitete. Vor kurzem verkaufte Blackwell das Unternehmen, um gleich wieder eine zweite Firma aufzubauen, deren Sortiment auf Afrika und Lateinamerika ausgerichtet ist.

Auf einer Freilichtbühne gegenüber seines noblen Tides-Hotels – Blackwell besitzt eine kleine Hotelkette – präsentierte der Musikmagnat nun seine neuesten Errungenschaften: den Salsa-Sänger José Alberto, der wegen seiner hellen Stimme auch „El Canario“ gerufen wird, und den Trombone-Bläser Jimmy Bosch, beide aus New York, sowie die Plena-Gruppe Plena Libre aus Puerto Rico. Im lauen Abendwind den kommenden Trends lauschen, das war das unausgesprochene Motto, denn Blackwell hat wieder ein Ziel vor Augen: die lokal renommierten, aber international kaum bekannten Latin-Künstler „auf ein globales Level bringen“, wie er den versammelten Journalisten zum Mitschreiben ins Tischmikrofon nuschelte. Soll heißen: ihre Musik für Latinos und Nichtlations zugleich zugänglich zu machen, also die bisherige musikalische Parallelökonomie aufbrechen. Noch immer läuft der größte Teil des Handels auch in den USA über Insider-Klitschen und verschlungene Vertriebswege, also am Mainstream-Markt vorbei.

Blackwells neue Schützlinge sind euphorisch. Alle sind sie schon lange im Geschäft, doch jetzt hat sich der Horizont der Möglichkeiten schlagartig erweitert. Gary Nunez etwa, der Bandleader von Plena Libre, engagiert sich schon seit gut 25 Jahren in Sachen Plena, dem Folklore-Rhythmus Puerto Ricos. Anfang des Jahrhunderts im Süden der Insel entstanden, gilt Plena als Puerto Ricos Nationaltanz, doch wurde er zuletzt fast völlig von der Konkurrenz verdrängt, von Salsa, Merengue und Rap.

Dem zwölfköpfigen Plena-Libre-Kollektiv gelang es, in den letzten Jahren ein regelrechtes Revival zu entfachen, indem die Gruppe die altbackene Anmutung des Genres revolutionierte. Gary Nunez, der im Kreis seiner jungen Kollegen ein wenig wie ein väterlicher Vorstand wirkt, strahlt: „Wir haben es geschafft, die Jugend für uns zu gewinnen.“ Was war dabei entscheidend? „Der Look“, antwortet grinsend sein Partner Israel Velez, ein sportlicher Plenero, der in jeder Boygroup eine gute Figur machen würde und der das offenbar auch weiß. „Ja, das Image spielt eine Rolle“, gesteht Gary Nunez und fügt hinzu: „Und das Arrangement, die Interpretation, die Art, wie wir uns auf der Bühne präsentieren, und nicht zuletzt unsere Texte. Der traditionelle Plena handelt von Menschen, die auf den Zuckerfeldern arbeiteten, oder vom Hurrikan, der vor 30 Jahren wütete. Das hat keinerlei Bezug zu einem 19jährigen Teenager. Aber wenn wir von Handys singen, dann sind das Sachen, die alle verstehen.“

Zu Hause haben sich Plena Libre in den fünf Jahren ihres Bestehens ganz nach oben gespielt, jetzt wollen sie das Ausland von ihrem Power-Plena überzeugen. Daß mit Ricky Martin gerade ein Popsänger aus Puerto Rico weltweit Furore macht, sorgt für den entsprechenden Rückenwind. „Es ist gut, nicht nur für Ricky Martin, sondern auch für uns“, ist Gary Nunez überzeugt. „Wenn er leuchtet, dann fällt auch ein wenig Licht auf uns ab.“

Tatsächlich scheint der Zeitpunkt derzeit so günstig wie noch nie für lateinamerikanische Musik, gerade in den USA scheinen die Palmen nur so in den Himmel zu wachsen. Seit Ricky Martin Anfang des Jahres bei der Grammy-Musikpreis-Verleihung einen vielbeachteten Auftritt verbuchte, hat im Land eine Art Latino-Hysterie eingesetzt. Sein Song „Livin la Vida Loca“ steht kurz nach Erscheinen an der Spitze der Hitlisten, Madonna hat ein Duett mit ihm aufgenommen, und die US-Trendmagazine stehen in diesem Sommer vor der schweren Wahl, entweder ihn oder die gleichfalls puertoricanische Schauspielerin Jennifer Lopez, die kürzlich als Popsängerin debütierte, aufs Cover zu heben – meist entscheiden sie sich für beide. Unverkennbar hat das angloamerikanische Amerika Geschmack gefunden am lateinamerikanischen Lebensgefühl – auch wenn das in der Musik von Ricky Martin und Jennifer Lopez mehr behauptet als reproduziert wird.

„Die lateinamerikanische Musik gehört nicht mehr länger nur der Latino-Gemeinde, sie gehört der ganzen Welt“, ist Jimmy Bosch überzeugt, der aufgedrehte Trombonist, der eine Miniaturnachbildung seines Instruments sogar als Ohrring trägt. Er macht für diesen Wandel nicht zuletzt die gesellschaftliche Großwetterlage verantwortlich: „Das politische Klima hat sich geändert, es herrscht heute eine größere Offenheit. Die Musik war immer da, doch sie wurde als Musik der Einwanderer angesehen, als Musik der unteren Schichten. Jetzt hört man davon in den Nachrichten, man liest davon in der Zeitung und in den Magazinen.“

Der finanzielle und künstlerische Aufstieg des Latino-Pop kündet auch von der Ankunft der Latino-Minderheit im Zentrum der US-Gesellschaft. Es ist nicht zuletzt ein demographisches Phänonen: Die hispanische Minderheit wird bald die zahlenmäßig größte in den USA bilden, und damit wächst auch ihr Einfluß auf Politik und Kultur. „Es gibt jetzt zwei FM Radiosender in New York, davor gab es gar keinen. Latin Music geht ab, nicht nur in den USA, sondern auch darüber hinaus“, sagt der Salsa-Sänger José Alberto. Und Jimmy Bosch hat beobachtet: „Früher kamen hauptsächlich Latinos in die New Yorker Salsa-Clubs. Heute sind da Japaner, Europär, Leute aus aller Welt. So sollte es auch sein. Das will man doch als Musiker – seine Kunst mit der ganzen Welt teilen.“

Ausverkaufssorgen plagen Jimmy Bosch keine, und auch José „El Canario“ Alberto nicht, der schon seit mehr als zwanzig Jahren eine große Nummer in der New Yorker Salsa-Szene ist und mit der kubanischen Legende Celia Cruz bereits mehrmals durch Europa tourte. Wegen der dort anhaltenden Salsa-Begeisterung ist er überzeugt: „Die Zukunft der lateinamerikanischen Musik liegt in Europa.“

Daß diese Zukunft groß sein wird, das steht vor allem für die Beteiligten, die nach Miami gekommen sind, außer Frage. Die Musik für das kommende Millennium! Aufbruchstimmung hat die Latino-Musikszene ergriffen. Am letzten Messetag lud die Latin Recording Academy zu einer Pressekonferenz, um die Realisierung ihres langgehegten Projekts anzukündigen. Im nächsten Jahr soll erstmals ein eigener Latin-Grammy vergeben werden. Ob in Miami oder Kalifornien, ist noch nicht entschieden, nur eins ist sicher: mit TV-Zeremonie und allem Brimborium, ganz wie beim Vorbild, dem renommierten US-Grammy. Fotogen flankiert von namhaften Unterstützern wie Gloria Estefan und ihrem Mann Emilio sowie einer Riege geladener Latin-Pop-Größen, verkündete Akademiepräsident Michael Greene: „Es geht nicht darum, lateinamerikanischen Künstlern eine Brücke in den amerikanischen Mainstream zu bauen. Es geht vielmehr darum, daß die angloamerikanische Mehrheit ihren Weg zur lateinamerikanischen Musik findet.“ Das neue Selbstbewußtein kennt jetzt schon keine Grenzen.

Noch immer läuft der Handel mit Musik aus Lateinamerika über Insider-Klitschen

Puertoricanisches Doppel: US-Magazine stehen vor der Wahl zwischen Ricky Martin oder Jennifer Lopez