Dorf wird in Zeitlupe von einem Berg verschüttet

■ Im österreichischen Vorarlberg verwüstet unterirdischer Erdrutsch langsam einen Ort

Sibratsgfäll (taz) – Bis vor wenigen Wochen war das Café „Alpenrose“ noch ein beliebtes Ausflugsziel in Sibratsgfäll im österreichischen Vorarlberg. Doch das frisch renovierte Haus mit der einladenden Terrasse ist jetzt umgeben von Baggern, die bergeweise schlammiges Erdreich wegschaufeln, die einen Wettkampf gegen die Zeit führen. „Die können das nicht mehr verbaggern, so schnell die weglöffeln, so schnell kommt das nach“, meint resigniert der Besitzer der „Alpenrose“, Herbert Dorner. Er muß mit ansehen, wie sein Lebenswerk nach und nach von den Erdmassen regelrecht zerdrückt wird. In 25 Jahren haben er und seine Frau sich ihre Existenz aufgebaut. „Und jetzt muß ich gehen. Wir haben keine Straße mehr, keinen Strom, kein Telefon, kein Wasser.“

Vor knapp vier Wochen begann hier in der Nähe des Bodensees auf einer Breite von eineinhalb Kilometern unterirdisch ein gewaltiger Erdrutsch. Anders als bei einem „normalen“ Murenabgang werden dem Hausberg des Dorfes, dem 1.628 Meter hohen „Feuerstätter“, praktisch die Beine weggezogen. Das Geröll schiebt sich ins Tal, gleichzeitig bewegt sich der Boden, auf dem die Häuser stehen. Bis in eine Tiefe von 70 Metern ist der Lehm des Berges ins Rutschen geraten, und nichts kann ihn aufhalten: 22 Gebäude mußten bereits evakuiert worden, sie rutschen weg oder werden von den Gesteinsmassen zerquetscht. Die Rutschung beginnt direkt am Grat vom „Feuerstätter“ und erstreckt sich über zwei Kilometer talwärts bis zu kleinen Flüßchen Rubach. Selbst die 1694 erbaute Kapelle stürzt in sich zusammen. Manche Häuser sind inzwischen wie Kartenhäuser geknickt. Die Straße ist auf 100 Meter weggerissen, der Rest teilweise drei Meter und mehr abgesackt. Tiefe Risse wie nach einem Erdbeben lassen die Naturgewalten erahnen.

Die üblichen menschlichen Fehler bei der Bebauung, die immer wieder zu Erdrutschen und verheerenden Schäden führen, wurden im Ort ganz offensichtlich nicht gemacht. Im Gegensatz zu anderen österreichischen Tourismusgebieten hat Sibratsgfäll sogar auf sanften Torusimus gesetzt. Doch gegen die extremen Regenfälle im Frühjahr, im vergangenen Herbst sowie der strenge Winter mit den immensen Schneemassen war nach Ansicht von Geologen kein Kraut gewachsen, berichtet Gemeinderat Konrad Stadelmann. „Das sind großflächige Erdbewegungen.“ Die Bebauung sei zum Teil uralt. Sibratsgfäll sei auf Lehm gebaut und deshalb immer schon ein wenig labil gewesen.

Vor 270 Jahren gab es zum letzten Mal einen großen Erdrutsch. Damals wurden siebzehn Anwesen zerstört. Nur die kleine Kapelle überstand die Naturkatastrophe. Diesmal ist auch sie nicht zu retten. Wenn es gutgeht, jedoch die „Alpenrose“. Sie rutscht täglich lediglich fünf bis zehn Zentimeter ins Tal. Andere Gebäude – Ferienhäuser, Wohnungen und Scheunen – werden täglich bis zu zehn Meter weit verschoben.

Wegen der Schäden fürchtet der ruhige österreichische Bergort um die Touristen. Weil viele meinen, der ganze Ort sei gefährlich. Doch dem ist nicht so, wie Peter Bechter, der Chef des Verkehrsamtes versichert. „Sibratsgfäll ist ohne Probleme erreichbar. Bei uns kann man immer noch Urlaub machen“, baut der Tourismusmann vor. „Es hat zum Glück nur ein Teilgebiet verwüstet.“

Das Unglück trifft alle im Dorf hart. Die in Sicherheit gebrachten Bewohner wurden bei Bekannten, Verwandten und in Ferienwohnungen untergebracht. Fast verzweifelt arbeiten sie tagsüber im Katastrophengebiet, um zu retten, was noch zu retten sein könnte. Klaus Wittmann