■ Rot-Grün und der energiepolitische Friede
: Keine Akzeptanz für den Konsens

In diesen Wochen findet ein aufsehenerregender atompolitischer Machtkampf statt. Zwei diametral unterschiedliche Herangehensweisen stehen sich gegenüber. Noch scheint vollkommen offen, wer sich durchsetzen wird. Nein, hier ist nicht die Rede vom öffentlichen Schaukampf zwischen Stromkonzernen auf der einen und dem grünen Teil der Regierung auf der anderen Seite. Denn wenn sich diese scheinbaren Kontrahenten auch völlig uneins über die Laufzeiten der Reaktoren geben, so sind sie sich über die Rahmenbedingungen längst einig: Es soll keinen Ausstieg geben, auch wenn dieser Begriff gerne verwendet wird, sondern es geht um ein „Auslaufen“ der AKWs, orientiert an betriebswirtschaftlichen Faktoren. Wichtigste Prämisse der Koalition ist dabei nicht der Schutz der Bevölkerung vor dem berühmt-berüchtigten Restrisiko, sondern die Vermeidung von Schadenersatzansprüchen der Betreiber.

„Die Änderungen, die die Grünen an Müllers Papier fordern, sind vergleichsweise harmlos“, bemerkt die FAZ. Zentrales Anliegen ist die Stillegung eines Altreaktors innerhalb dieser Legislaturperiode. Da geht es weniger um den „Einstieg in den Ausstieg“ als um die zukünftigen Wahlchancen der ehemaligen Ökopartei. Fakt ist: Nach vier Jahren Rot-Grün wäre nicht – wie im Koalitionsvertrag festgelegt – der Atomausstieg umfassend und unumkehrbar geregelt, sondern der jahrzehntelange Weiterbetrieb durch umfassende staatliche Garantien abgesichert.

Welches andere Konzept steht nun dieser Konsenspolitik gegenüber? Es ist die gut vorbereitete „Verstopfungsstrategie“ der Anti-Atom-Bewegung. Wenn sich genügend Menschen querstellen, so die einfache, aber faszinierende Idee, dann ist es aufgrund personeller Engpässe bei der Polizei nicht möglich, mehr als zwei Atommülltransporte pro Jahr durchzuführen. Nötig wären aber 50. Die Reaktoren müßten bald reihenweise vom Netz genommen werden, weil deren interne Lager randvoll sind. Bis zur nächsten Bundestagswahl träfe dieses Schicksal bereits elf Kraftwerke – entschädigungsfrei!

Die Bonner Verhandlungsrunde war sich dieser Gefahr bewußt. Von politischen Beobachtern wird in den letzten Wochen immer häufiger festgestellt, daß sowohl die Konzernmanager als auch ihr Ex-Kollege Werner Müller den Konsens vor allem deshalb anstreben, weil sie sich davon eine Befriedung der atompolitischen Situation erhoffen. Der Minister warb im Mai auf der Jahrestagung Kerntechnik bei der Nukleargemeinde um eine konstruktive Mitwirkung, weil das, so Müller, „der einzige Weg ist, um für einen geordneten, die betriebswirtschaftlichen Interessen wahrenden Auslaufbetrieb die notwendige allgemeine Akzeptanz zu sichern“.

Das ist also der eigentliche Konflikt in diesen Wochen: Macht die Anti-Atom-Bewegung ihrem unverwüstlichen Ruf wieder einmal alle Ehre? Oder gelingt es, mit großem Bonner „Ausstiegs“-Getöse und der kleinlauten Einschätzung der Grünen, daß es „schneller nun mal nicht zu haben sei“, die Gesellschaft auf weitere Jahrzehnte Atomenergie einzustellen? Entsteht zwischen Fatalismus und Resignation beim atomkraftkritischen Teil der Bevölkerung der strahlende energiepolitische Friede?

So wie es aussieht, haben die AKW-Betreiber schlechte Karten. Zu viele Menschen in diesem Land haben einen wichtigen Teil ihrer Sozialisation in der außerparlamentarischen Auseinandersetzung um die Atomkraft gemacht. Die Entwicklung der Grünen von der Parteigründung über erste Parlamentsmandate bis hin zur Regierungsbeteiligung war getragen von der Hoffnung, daß sich – nach den Niederlagen an den Bauzäunen in den 70er Jahren – auf diesem Weg die Stillegung endlich durchsetzen läßt. Die Enttäuschung darüber, daß daraus nichts wird, ist groß. Aber noch größer ist bei vielen die Bereitschaft, sich nun wieder außerparlamentarisch einzumischen. Denn selten waren die Perspektiven von Widerstand so konkret wie bei der „Verstopfungsstrategie“. Dies erkennen langsam auch prominente Grüne. Michaele Hustedt, energiepolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion, denkt bereits laut über die Teilnahme der Partei an Aktionen gegen die Transporte nach, „inklusive Führungsspitze“.

Jochen Stay

Der Autor ist atomkritischer Publizist aus dem Wendland