„Nichts zu verlieren als unsere Würde“

■ In Lothringen bestreiken die Arbeiter das mit hohen Subventionen ins Land geholte Bildröhrenwerk des koreanischen Daewoo-Konzerns wegen unmenschlicher Arbeitsbedingungen

Paris (taz) – Als das Fieber auf 40 Grad gestiegen war, ging Saban zu seinem Chef, um ihm mitzuteilen, daß er krank sei. Die Reaktion des Vorgesetzten war unmißverständlich: „Wenn du zu Hause bleibst, gibt es eine Verwarnung.“ Der 23jährige Arbeiter Saban kurierte sich trotzdem aus: „Meine Gesundheit geht vor.“ Bei seiner Rückkehr an die Maschine in der lothringischen Bildröhrenfabrik „Daewoo Orion“ erhielt er zur Begrüßung die angekündigte Verwarnung. Es war seine zweite. Drei Verwarnungen bedeuten Kündigung. „Wir sind Menschen, keine Hunde“, empört sich Saban.

Damit drückt er aus, was fast alle der rund 600 Beschäftigten in der lothringischen Fabrik des koreanischen Konzerns denken. Seit dem 14. Juni befinden sie sich im Streik. Es ist der erste Streik in dem 1994 in Mont-Saint-Martin eröffneten Werk, das mehrere Daewoo-Fernsehfabriken in Frankreich und Polen mit Bildröhren beliefert. Der Streik richtet sich gegen die erniedrigende Behandlung, gegen den Bruch tarifvertraglicher Pausenregelungen und gegen die miesen Löhne.

Denn Schikanen wie die gegen Saban sind bei „Daewoo Orion“ an der Tagesordnung. Viele ArbeiterInnen haben sie am eigenen Leib erlebt. Alle wissen um ihre Existenz. In den Streikversammlungen, die sie seit dem 14. Juni abhalten, gibt es immer neue Berichte über die – englisch benannte – „no division“. Eine „Abteilung“, für die nie ein Arbeiter eingestellt wurde und in der sich jene wiederfinden, die Unfälle hatten, krank waren oder den Mund zu weit aufgemacht haben. Eine Frau muß nach einer Krankheit in die „no division“ und Fabrikwände putzen, eine andere Rasen mähen. Ein Mann muß stundenlang untätig in einem Büro herumsitzen.

Der Konzern Daewoo – der nach Eigendarstellung 260.000 Menschen in 110 Ländern beschäftigt – reagierte scharf auf den Streik. Seit dem Beginn des Konfliktes droht die Fabrikleitung, die mehrheitlich mit nicht Französisch sprechenden Koreanern besetzt ist, mit der Schließung des Werkes, das in den vergangenen vier Jahren 210 Millionen Franc öffentliche Hilfen bekommen hat. In den seither vergangenen Tagen hat sie mehrere Zugeständnisse machen müssen. Vor allem kündigte sie die Abschaffung der „no division“ an. Aber eine Lohnerhöhung von 300 Franc monatlich, wie sie die Streikenden verlangen, ist sie nicht bereit zu zahlen.

Für Freitag hat die Fabrikleitung den Betriebsrat bestellt. Dessen Mitglieder vermuten, daß Daewoo bei der Gelegenheit eine Aussperrung bekanntgeben wird. Die Fabrikleitung selbst hüllt sich in Schweigen. Auch für die taz war sie nicht zu einer Stellungnahme bereit.

Das ostfranzösische Lothringen, wo Daewoo in den 90er Jahren drei Fabriken eröffnet hat, ist eine wirtschaftliche Katastrophenregion. Von der Stahlkrise, die vor 20 Jahren für Massenarbeitslosigkeit sorgte, hat sie sich nie ganz erholt. Mit nationalen und europäischen Mitteln versucht Lothringen neue Investoren aus aller Welt zu holen. Viele haben die staatlichen Hilfen angenommen. Manche haben sie bis zum Ende ausgeschöpft und sind anschließend wieder gegangen. Wie der Elektronikkonzern JVC, der Mitte der 90er Jahre von Lothringen auf die andere Seite des Ärmelkanals umzog, wo neue Subventionen winkten.

Auch bei „Daewoo Orion“ hängt die Drohung mit der Werksschließung wie ein Damoklesschwert über dem Geschehen. Bereits im vergangenen Jahr überlegte der koreanische Konzern im Gefolge der asiatischen Finanzkrise, sich von seinen Auslandsengagements zu trennen. Seit dem Streikbeginn steht diese Überlegung wieder im Raum.

Lokalpolitiker, die die ausländischen Investoren geholt haben, müssen jetzt deren Abzug fürchten. Erst gestern wieder mahnte der konservative Regionalratspräsident Gérard Longuet die Arbeiter von Daewoo zu „Vernunft“ und „Mäßigung“.

Doch bei der Belegschaft, die sich jetzt nach jahrelangem Stillhalten wehrt, verhallen solche Mahnungen. „Wir sind ohnehin die schlechtestbezahlten Arbeiter der Region“, sagt der Vorarbeiter Abderrahmane, der ebenfalls streikt. „Wir haben nichts zu verlieren als unsere Würde“, erklärt eine Arbeiterin im Radio. Tatsächlich liegt der Lohn der meisten Arbeiter mit 5.700 Franc nur unwesentlich über dem Sozialhilfesatz.

An den Wänden von „Daewoo Orion“ hängen ins Französische übersetzte Poster aus Korea. Sie zeigen Bilder von glücklichen Familien, in denen die Kinder ihre Väter auffordern, sich ganz der Arbeit und dem Unternehmen zu widmen. Eine Weile hat diese Gehirnwäsche, gepaart mit direktem Druck, auch in Lothringen gewirkt. Jetzt wollen die ArbeiterInnen nicht mehr mitmachen. Abderrahmane: „Wir sind hier nicht in Korea.“ Dorothea Hahn