Warten auf Bülent

Die türkische Sängerin Bülent Ersoy, transsexueller Arabesk-Star, ließ sich zu einem Konzert in Berlin herab  ■   Von Daniel Bax

Das „Prestige“ ist einer der besseren Hochzeitssalons Berlins. Der erste Blick legt nahe, es sei die übliche Hochzeitsgesellschaft, die dort an langen Tischen Platz genommen hat. Blumengebinde lehnen an der Wand, Herzgirlanden hängen von der Decke und eine einsam kreisende Discokugel wirft bunte Lichtreflexe in den taghell erleuchteten Raum. Keine Hochzeit aber, sondern ein Konzert: Aus der übersteuerten Anlage quäken klägliche Laute, zwischendurch fiepst und brummt es. Diverse Sängerinnen mühen sich, etwas Stimmung aufkommen zu lassen. Vergeblich. Unkonzentrierter Höflichkeitsapplaus ist alles, worauf sie hoffen können. Denn alle warten auf Bülent.

Aber Bülent Ersoy läßt auf sich warten. Männer in Anzügen laufen geschäftig auf und ab, und in den Liedpausen hört man immer irgendwo ein Handy klingeln. Das Orchester spielt und spielt, aber nichts passiert. Offizieller Veranstaltungsbeginn war 18 Uhr, doch noch um Mitternacht hat sich der hohe Besuch nicht eingestellt. Leichte Nervosität macht sich breit: Was, wenn sie nicht kommt? Alles schon passiert! Doch die Dauer der Wartezeit ermißt lediglich die Bedeutung, die Bülent Ersoy zugestanden wird. Warten als Respektbezeugung.

Bülent Ersoy verdient viel Respekt, denn sie ist, was man eine lebende Legende nennt. 1981 unterzog sie sich, damals schon androgynes Objekt der Begierde, einer Geschlechtsumwandlung vom „Er“ zur „Sie“, worauf das gerade an die Macht geputschte Militärregime mit einem Auftrittsverbot aus „moralischen Erwägungen“ reagierte. Bülent Ersoys Popularität tat dies keinen Abbruch, im Gegenteil, Millionen ihrer Kassetten gingen über die Ladentische. Sieben Jahre lang lebte sie im Exil in Deutschland, bevor sie endgültig zurückkehrte. Auf den Feiern der Reichen und Schönen sang sie, bevor Präsident Özal sie offiziell rehabilitierte und in die Öffentlichkeit zurückholte. Heute sind ihre Auftritte kein Skandal mehr, kein Politikum. Nur besondere Ereignisse, immer noch.

Ein illustres Publikum, auch in Berlin: ein bißchen türkische High Society, vereinzelt ein paar Frauen mit züchtigem Kopftuch, am Tisch daneben ein schwules Grüppchen. Die entpuppen sich als heimliche Helden des Abends, überbrücken sie doch die Wartezeit mit Tanzeinlagen. Als sie ihre akrobatischen Bauchtanzbewegungen ausstellen, werden sie von den Lederjackenmachos im Saal nicht etwa rausgeworfen, sondern gebührend beklatscht. Gegen 1 Uhr sind die in Zellophan verpackten Rosen, die aus einem Eimer verkauft werden, weg. Doch die „Bülent, Bülent“-Rufe verhallen folgenlos. Bülent Ersoys Publikum ist nicht nur enorm leidensfähig, nein, es liebt dieses Leiden. Und Bülent Ersoy läßt es leiden.

Endlich, um halb zwei, kommt Bewegung auf. Das Licht wird heruntergedreht, der Kanunspieler klimpert aufgeregt, Fotografen und Verehrer stellen sich Spalier, die Spannung steigt. Klatschen, Pfeifen. Dann kommt Sie, von Bodyguards umschwänzelt, und entschuldigt sich formvollendet. Geschickt weiß sie den Eindruck zu verbreiten, die Verspätung habe ihren Grund nicht etwa in der eigenen Eitelkeit, sondern sei, natürlich, organisatorischen Mängeln geschuldet. Egal. Alle Zerfahrenheit ist wie weggeblasen, als Bülent Ersoy anhebt zu singen. Mit ihrer tiefen Stimme füllt sie den Raum, erst mit Mikro, dann auch ohne. Tiefempfundene Verehrung schlägt ihr entgegen, einer breitet einen Halbkreis aus Rosen vor ihr auf den Boden aus. Überhaupt Rosen: Wie eine Königin läßt sie sich die Blumen reichen und hält lässig die Hand hin, die ehrerbietig geküßt wird, von Frauen wie von Männern, dann bietet sie sogar beide Wangen dar. Andere überschütten sie mit Rosenblättern, während sie sich durch die Tischreihen bewegt. Wie die Anführerin einer Prozession, gefolgt von ihren Bodyguards, tätschelt sie Kinderköpfe und Männerschultern und schafft dabei Intimität. Immer steht sie im Zentrum der Aufmerksamkeit, sogar, als sie sich setzt und einem befreundeten Sänger aus Berlin das Mikrofon überläßt. Alle Blicke ruhen auf ihr, während er singt, alle hängen hingebungsvoll nur an ihren Lippen. Mit dem affektierten Akzent des alten Istanbuls macht sie anzügliche Bemerkungen. Als ihr ein kleiner Junge eine Rose überreicht, fragt sie die Frau neben ihm: „Bist du die Mutter? Schick ihn noch einmal, wenn er ausgewachsen ist.“

Bülent Ersoys Heirat mit ihrem weniger als halb so alten, knapp zwanzigjährigem Liebhaber war im letzten Jahr eines der herausragenden Ereignisse in der Türkei. Was wie die Umkehrung der üblichen Verhältnisse wirkt, ist durchaus Normalität, denn zumindest im Showbiz ist die Türkei ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Sind Schwule und Transvestiten auch im Alltag nicht eben wohlgelitten, auf der Bühne werden sie geliebt. Mit ein Grund vielleicht, warum Bülent Ersoys Musik auch „Fantazi“ genannt wird – „Fantasie“. Die allgemeinere Bezeichnung aber ist „Arabesk“. Denn Arabesk ist nicht nur eine Musik, es ist eine spezifisch türkische Subkultur, ein Antidot zum verordneten Selbstbild. Die Türkei möchte gern westlich und säkular sein, moralisch eindeutig, männlich und der Zukunft zugewandt. In der Musik aber findet die Rückkehr des Verdrängten statt: Arabesk ist orientalisch und religiös, effeminiert und voller Nostalgie, schillernd und schlüpfrig.

So wie Bülent Ersoy, die Diva, die der klassischen Kunstmusik der osmanischen Epoche mit ihren Liedern eine populäre Form gibt. Nach nur einer Stunde hat sie jedoch schon genug von ihrer Berliner Visite und rauscht von dannen, gefolgt von ihrem Troß. Rasch löst sich die Gesellschaft auf, verstreut sich nach allen Seiten. Zurück bleibt der Eindruck, einer seltsamen Erscheinung beigewohnt zu haben, für Außenstehende so befremdend wie der Karneval in Köln oder die Wallfahrer von Lourdes. Wie ein Traum.