Gemächlich fließt die Gemütliche

Mit dem Velo entlang der Rhône durch das Schweizer Wallis vom Gletscher bis zum Genfer See. Eine der neun Schweizer Velorouten durch das weinträchtige Flußtal    ■ Von Günter Ermlich

Wohlig ist die Übernachtung im Belvédère gewesen, einem steinigen Hotelkasten mit doppelten Zimmertüren, knarzendem Holzfußboden und kernigen, tief ausladenden Opabetten. Doch der Blick aus dem Hotelfenster am nächsten Morgen ernüchtert. Herrjemine! Verdammte weiße Pracht! Wir wollten eigentlich Rad fahren und nicht Ski laufen. Unterhalb des Furkapasses, am wildzerklüfteten Rhône-Gletscher in 2.300 Meter Höhe, spritzt weiße Gischt zu Tal: die ersten Meter der Rhône. An ihr wollen wir durch das Schweizer Wallis bis zum Genfer See entlangradeln. Weil der Neuschnee den erhofften Kitzel, auf der serpentinenreichen Paßstraße die 1.000 Höhenmeter downhill ins Tal zu rollen, torpediert hat, bringt uns der Begleitbus des Reiseveranstalters Eurotrek ins Tal.

Die Rhôneroute ist eine von neun Radwanderstrecken mit einer Gesamtlänge von „3.300 km Fluchtweg vor dem Tourismus“ (Werbebroschüre Schweiz Tourismus). Das landesweite, überkantonale Radwandernetz ist einheitlich markiert, ausgeschildert, mit 250 Infotafeln an Knotenpunkten versehen und in drei regionalen Routenführern dokumentiert. Die einfachen der Radfernwege führen entlang von Flußläufen, an Aare, Rhein und Rhône („Die Gemütliche“) und sind deshalb auch für Familien mit Kindern geeignet, während die Alpenpanorama-Route („Die Herausfordernde“) mit 7.200 Meter Höhendifferenz wohl nur für großlungige, beinharte Sportradler infrage kommt. Und die „Nord-Süd-Route“ („Die Klassische“) führt von Basel über das Gotthardmassiv nach Chiasso im Tessin. „Veloland Schweiz“ heißt die wichtige neue Marke im gesamttouristischen Konzept. Rund vier Jahre dauerte die Vorplanung; 15 bis 16 Millionen Schweizer Franken (knapp 20 Millionen „Deutschmark“) betrugen die Investitionen für Projektentwicklung und Ausschilderung. In der föderalistischen Schweiz ein (tourismus-)politischer Kraftakt: Alle 26 Kantone und die Verbände vom Schweizer Tourismusverband über den Verkehrsclub bis zur IG Verkehr (der eidgenössische ADFC), dazu die Bahn und die Veloindustrie mußten mit auf den Sattel. Die „Stiftung Veloland Schweiz“, für die Umsetzung des Radwegekonzepts gegründet, zählt inzwischen 1.100 Partnerbetriebe mit eigenem Qualitätslabel: Hotels, Campingplätze, Ferien auf dem Bauernhof, Schlafen im Stroh, Restaurants.

In Oberwald, am Bahnhof der Furka-Oberalp-Bahn, starten wir zur Rhônetour. Unsere Leihräder, Countrybikes mit Alurahmen, 24 Gänge, Gripsshift, zeigen schon beim Einfahren, wie robust, wendig und sicher sie sind. Die erste Etappe führt durch das schmale Hochtal Goms. Kleine Dörfer mit vom Wetter gegerbten Holzhäusern säumen den Weg. Die junge Rhône heißt hier Rotten. Obwohl anschließend die stärker befahrene Talstraße nach Brig stets bergab führt, müssen wir pausenlos in die Pedale treten: Der berüchtigte Westwind bläst brutal von vorn. Hinter Brig, im mittleren Rhônetal, wird das Radwandern unspektakulärer. Die Ebene ist weit, viel freie Fläche für Gewerbe- und Industriebetriebe. Dafür können wir unbeschwert dem separaten, asphaltierten Radweg folgen: Die braunen Schilder mit Ziel- und Kilometerangaben, einem hellbauen Piktogramm, darauf die „1“ für Rhône-Radweg, darunter das Helvetia-Kreuz, sind in der Regel gut sichtbar und ausreichend groß.

„Die Wege hier führen alle nirgendwohin“, notierte Rainer Maria Rilke. So trifft das heute nicht mehr zu. In Raron, wo der Dichter auf dem Burgerhügel über dem Rhônetal begraben liegt, hieven wir die Velos in den Zug. „Anders als in Deutschland sind hier die wenigen Züge ausgewiesen, die keine Fahrradmitnahme zulassen“, lobt der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) die Schweizer Bundesbahnen (SBB). „Die Schwachstelle vom Veloland Schweiz war im letzten Jahr das fehlende Servicenetz“, analysiert Ruedi Jaesli mit der Tony-Marschall-Lockenfrisur. Der dynamische Geschäftsführer des Reiseveranstalters Eurotrek bietet deshalb ein „organisiertes Individualprogramm“ an: bei der Buchung kann der Velokunde Startort und -termin, die Etappenlängen und -ziele wie die Anzahl der Reisetage nach eigenem Gusto bestimmen, auf Wunsch kann er Unterkünfte reservieren und das Gepäck transportieren lassen und damit aus dem üblichen „fremdbestimmten“ Pauschalpaket ausbrechen.

Zügig durchqueren wir den Pfynwald, der größte zusammenhängende Föhrenwald Europas und Sprachgrenze zwischen der deutschsprechenden Minderheit und französischsprechenden Mehrheit des Wallis/Valois. In Sierre steigen wir aus – und sogleich wieder ein: Diesmal in die „Funi“, die neue Standseilbahn (Funiculaire), die uns und unser Velo zum „Seitensprung“ auf das Hochplateau nach Crans-Montana befördert. Nicht nur als Wintersportort mit Alpiner Ski-WM-Vergangenheit bekannt, sondern Fußballfans auch als Domizil von Lolita, der Ex-Ehefrau von Lothar Matthäus.

Der nächste Morgen. Schneematsch, Nebel, lausige Kälte. Renato, unser Gepäckkurier und Servicemann, hat die Velos schon aus der Hotelgarage geholt. Nichts wie weg! Eingemummelt strampeln wir durch den stark zersiedelten Doppelort – vor allem Crans ist eine abweisende Sammlung gesichtsloser Appartementhäuser, die in der Nebensaison leerstehen. 700 Meter tiefer beginnt eine andere Welt. Trächtige Weinberge rundherum. Wie ein hellgrüner Teppich überziehen Rebstöcke auf rund 50 Kilometern die Südhänge und die von der Rhône gebildeten Schuttkegel. Der Fendant, aus der Rebsorte Chasselas (Gutedel) erzeugt, ist der „Klassiker“ unter den Walliser Kreszenzen. Er macht allein 40 Prozent der kantonalen Weinproduktion aus. „Ein frischer, spritziger Wein für jede Gelegenheit, besonders aber zum Apéro“, läßt uns die Einschenkerin abends im „Le Cellier du Manoir“ in Martigny wissen.

Mittagspause in Sion. Zwei Felshügel überragen die Kantonshauptstadt des Wallis: der eine mit der Burgruine Tourbillon, der andere mit der befestigten WallfahrtskircheValère. Sion ist die älteste Stadt der Schweiz, Bischofssitz seit dem 6. Jahrhundert, wirtschaftlicher und kultureller Mittelpunkt des Rhônetals. Und bald auch Olympiaort? Nach den gescheiterten Bewerbungen 1976 und 2002 soll der dritte Anlauf für Winter-Olympia 2006 endlich klappen. Verkehrsdirektor Eddy Peter, Initiator der Olympiabewerbung, ist siegessicher: Now or never! Der strammwadige Peter, der früher einmal bei der Tour de Suisse mitgefahren ist, begleitet uns auf seinem Renn-Velo im Zickzackkurs in Richtung Martigny.

Dank der „Fondation Pierre Gianadda“ hat sich Martigny einen internationalen Ruf als „Ville d'art“ (Stadt der Künste) erworben. Die Stiftung organisiert in dem auf gallorömischen Mauern gebauten, modernen Museumsbau spektakuläre Kulturveranstaltungen. Wie zum Beispiel die vielbesuchte Gauguin-Ausstellung im letzten Sommer.

Hinter Martigny rauscht nicht nur die Rhône, sondern auch die dreispurig ausgebaute Autobahn N 9. Die Radroute verläuft kilometerlang als Dammweg zwischen Fluß und Autopiste durch das flache, fruchtbare Genfer-See-Vorland. Also fressen wir Kilometer. Bis zum Rhône-Delta bei Villeneuve, heute als Naturschutzgebiet Les Grangettes ausgewiesen. Als größter Zufluß des Genfer Sees hat die Rhône dieses Delta angeschwemmt. Auf Nimmerwiedersehen entschwindet hier die Rhône, unser „roter Faden“, im Genfer See. Wehe dem, der sich hinfort erdreistet, angezogen von den lieblichen Gestaden des Lac Léman, auf der Uferpromenade zu pedalieren! 30 harte Schweizer Franken berappt, wer erwischt wird. Eine kapitale Schwachstelle der Radroute, denn was bleibt, ist die verkehrsreiche Hauptstraße.

Am Schloß Chillon, dem Postkartenmotiv des Genfer Sees, wählen wir die „Wasser“-Variante des Radwegs: Auf dem Linien-Dampfer „Vevey“ (mit dem „Swiss Pass“ der Eisenbahn kostenlos, sechs Franken extra für das Velo) lassen wir uns nach Vevey schippern. Im Liegestuhl, drei Fränkli, haben wir Muße, die Umgebung zu beäugen: die gezackte Alpingruppe „Dents du Midi“ hinter uns, in Fahrtrichtung links die französischen Berggipfel, in Fahrtrichtung rechts die Stelzen-Autobahn in „schöner“ Hanglage, vor uns die mit Baukränen gespickte Himmelslinie von Montreux.

Wie geht's nun weiter? Die ausgeschilderte Radroute verläuft immer noch entlang der verkehrsreichen Uferstraße. Nein, danke! Statt dessen nehmen wir die knallrote Standseilbahn, die uns, Velos bei Fuß, hinauf zum Mont Pélerin transportiert. Eine goldrichtige Abweichung vom offiziellen Kurs: Fast wie von alleine rollen die Räder durch die terrassierten, vom mediterranen Mikroklima begünstigten Rebhänge des Lavaux. Winzerdörfer wie Epesses und Riex ducken sich in die Mulden der Weinfelder. Genußradeln pur, das Trüffelstück der Tour. Unten ruht der See, oben thronen die Savoyer Alpen. Eitel Sonnenschein. Bis zum Ziel in Lausanne.

Infos: Schweiz Tourismus, Kaiserstr. 23, 60311 Frankfurt, Tel: 069-256001-0, Fax. 069-256001-38

Beim Reiseveranstalter Eurotrek kostet die sechstägige Rhônetour 591 SF (5 Übernachtungen, Gepäcktransport, Velomiete, Routendokumentation). Kinder zahlen 30 % weniger. Eurotrek, Freischützgasse 3, Postfach, CH - 8021 Zürich, Tel.: 0041-1- 295 55 55, Fax.: 0041-1-295 56 40