Dann geht doch nach drüben?

Das Datum war nationaler Feiertag: Am 17. Juni wurde in der alten Bundesrepublik der Tag der Deutschen Einheit gefeiert, des Arbeiteraufstands in Ostberlin, damals Hauptstadt der DDR, gedenkend, welcher 1953 von der sowjetischen Besatzungsmacht niedergeschlagen worden war. Ein Blick auf die Vorgeschichte zeigt deutsch-deutsche Zusammenhänge über die Demarkationslinie hinweg. Chronik einer ausgeblendeten Geschichte  ■ Von Thomas Moser

Ende August 1952 kam es im „Volkseigenen Glühlampenwerk“ in Ostberlin zu einer Revolte der Belegschaft, in der großen Mehrheit Frauen. Mehrere hundert Arbeiterinnen hielten die Maschinen an und legten die Arbeit nieder. Ihr Protest galt den sogenannten Betriebs-Kollektiv-Verträgen, die damals in den DDR-Betrieben eingeführt wurden und die zum Beispiel die Einrichtung einer Nachtschicht zur Folge hatten. Die Frauen setzten sich durch; die Nachtschicht kam nicht. Der Vorfall, ein dreiviertel Jahr vor dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953, zeigt, daß dieser Aufstand eine Vorgeschichte hatte. Im Herbst 1952 und Frühjahr 1953 brachen aber auch im anderen Teil Deutschlands und Berlins Arbeitskämpfe mit großer Dynamik aus.

Zur selben Zeit, in die die Revolte in der Ostberliner Glühlampenfabrik fiel, im Oktober 1952, streikten zum Beispiel in Bremen und Hamburg die Hafenarbeiter. Sie forderten eine Erhöhung ihres Stundenlohns um 23 Pfennig. Weil die Gewerkschaft ÖTV einem Kompromiß mit der Hafen-Betriebsgesellschaft von nur neun Pfennig zustimmte, trat ein Teil der Arbeiter in einen wilden Streik. Nun wurde ein alter Mechanismus in Gang gesetzt, der sich unter den Verhältnissen des geteilten Deutschland immer neu bewährte: Von Unternehmern, Zeitungen, aber auch der ÖTV wurden die Streikenden und ihre unabhängigen Streikkomitees nicht nur als illegal, sondern vor allem als kommunistisch gesteuert bezeichnet. „Stalin läßt in den Häfen streiken“, schrieb die Zeit. Der wilde Streik hielt zwei Wochen an, dann gaben die Streikenden, schonungslos in die Maschinerie von Polarisierung und Denunziation gezogen, auf.

Das Muster des politischen Wechselspiels, in der „Geh doch nach drüben“-Parole berühmt geworden, fand später zum Beispiel auch auf die sozialen Bewegungen der 80er Jahre in Ost und West Anwendung. Doch damit waren auch Zusammenhänge hergestellt. Und Frage ist: Gehörten die Arbeitskämpfe im Westen und die Unruhen in den Ostbetrieben vielleicht zum gleichen gesamtdeutschen politischen Klima?

Eine Woche nach dem Ende der Auseinandersetzungen in Bremen und Hamburg, Mitte November 1952, die Nachricht, daß in der westfälischen Holzindustrie 3.500 Streikende aus 25 Betrieben fristlos entlassen wurden. In einer anderen Branche lief bereits der nächste Streik: Die Fliesenleger Nordrhein-Westfalens forderten höhere Löhne. Als der Streik in die vierte Woche ging, sperrten die Unternehmer alle 1.300 Streikenden aus. In Deutschland herrschte sozialer Krieg.

In diesem Dezember kam es im Drukkereigewerbe sogar zu einem bundesweiten Streik. Die IG Druck und Papier verlangte zehn Pfennig mehr Stundenlohn. Nach einer Woche Ausstand wurde die Forderung weitgehend erfüllt. Das Jahr war noch nicht um, da stand der nächste Streik drohend ins Land. Fast zwei Jahre lang hatte die IG Bergbau erfolglos den Abschluß eines neuen Manteltarifvertrags verlangt, jetzt waren 500.000 Bergarbeiter zum Arbeitskampf bereit. Weil ein Streik im Kohlebergbau die Bevölkerung immer in besonderer Weise traf, lag der letzte auch 47 Jahre zurück, sieht man von Revolutionsstreiks im Jahr 1919 einmal ab. In die Verhandlungen zwischen den Zechenleitungen und der IG Bergbau schalteten sich auch Arbeitsminister Storch, Wirtschaftsminister Erhard und Bundeskanzler Adenauer persönlich ein. Mitte Januar 1953 lag ein neuer Tarifvertrag vor, der Streik war abgewendet. Die Löhne wurden erhöht, die Schichtzeit unter Tage zum ersten Mal von acht auf siebeneinhalb Stunden verkürzt – es begann der Einstieg in die Vierzigstundenwoche.

Auch die Textilarbeiterschaft forderte höhere Löhne. Ende Januar 1953 traten im niedersächsischen Nordhorn 11.000 Beschäftigte in den Streik. Im Februar erfaßte die Streikwelle die Bezirke Nordwestfalen, Lippe und Südbaden. Im März waren die Streiks, ehe sie nach sechs Wochen Dauer beendet wurden, zum längsten Arbeitskampf in der Bundesrepublik geworden. Er sollte bald noch übertroffen werden.

Westberlin im April 1953: 37.000 Bauarbeiter bereiteten sich auf einen Streik für eine Lohnerhöhung von 15 Pfennig in der Stunde vor. Sie wählten bereits Streikkomitees, als der Streik von der Gewerkschaftsführung, die sich kompromißbereit gab, abgesagt wurde. Am 25. April traten die Werftarbeiter in Bremen und Bremerhaven in den Ausstand. Sie wollten acht Pfennig mehr Stundenlohn. Die Werften waren bereit, vier Pfennig zu bezahlen. Die 14.000 Streikenden wurden ausgesperrt, ihre Verträge gekündigt.

Berlin am 1. Mai 1953: zeitgleich zwei Kundgebungen. Die der SED auf dem Marx-Engels-Platz im Osten, wo Betriebsbelegschaften stundenlang an der Rednertribüne vorbeiziehen mußten. Im Westen kamen zur traditionellen Kundgebung der Gewerkschaften über 600.000 Teilnehmer zum Platz der Republik vor dem Reichstag. Berlin war zwar geteilt, aber noch nicht durch eine Mauer getrennt.

Im Ostteil hatte die SPD, trotz Verbots, immer noch etwa 7.000 Mitglieder. Es gab Ostberliner, die im Westteil der Stadt arbeiteten und umgekehrt. Durch die gesamte Stadt führte noch die S-Bahn. Zur Mai-Kundgebung im Westen waren so nicht nur Leute aus Ostberlin, sondern sogar aus anderen Städten der DDR gekommen. Der DGB-Vorsitzende von Berlin, Ernst Scharnowski, begrüßte sie in seiner Rede ausdrücklich.

Westberlin im Mai 1953: War die Arbeitsniederlegung der Bauarbeiter im April noch abgewendet worden, so begannen nun die Bauputzer mit einem Streik. Sie forderten einen neuen Akkordtarifvertrag und mehr Lohn. Der Streik der Instrumentenbauer ging nach zehn Tagen zu Ende, nachdem ihr Stundenlohn um acht Pfennig erhöht worden war. Die Belegschaften von zwölf Holzfabriken traten in den Warnstreik. Auch im Brauereigewerbe fanden Verhandlungen statt. Überall ging es um höhere Löhne.

In der DDR dagegen gab der Ministerrat eine allgemeine Erhöhung der Arbeitsnormen bekannt. In der Praxis hieß das: Lohnkürzung. Es kam zu ersten kleineren Streiks in Ostbetrieben. Was die Arbeiterschaft in West und Ost einte, war die soziale Frage, auf die sie, getrennt, aber mit denselben Mitteln antwortete – denen der Arbeiterbewegung. Ihre Kämpfe – hie mit den Unternehmern, da mit der SED – waren Teil des Ringens um die soziale und politische Ordnung, die in beiden deutschen Staaten nach dem Kriege neu gebaut wurde.

In Köln, Düsseldorf, Duisburg und anderen Städten Nordrhein-Westfalens traten Anfang Juni die Maler und Anstreicher in den Streik. Sie forderten die Angleichung ihrer Löhne an die der Maurer. 1,96 Mark in der Stunde. Bald darauf griff der Streik auf Niedersachsen über. In Bayern ging der Streik der Parkettleger in die dritte Woche. Am 10. Juni gingen die Arbeiter in Bremen und Bremerhaven wieder auf die Werften. Die Stundenlöhne wurden um fünf Pfennig auf 1,54 Mark erhöht. Sechseinhalb Wochen hatte ihr Streik gedauert. Ein neuer Rekord, der in ganz Deutschland für Aufsehen sorgte.

Das SED-Organ Neues Deutschland berichtete wiederholt über den andauernden Streik der Westberliner Putzer. Am 12. Juni schrieb die Zeitung, die Bauarbeiter der Stalinallee hätten die Putzer auf ihre Baustellen in den Osten eingeladen. Der 12. Juni, ein Freitag, war gleichzeitig der Tag, an dem zum zweiten Mal die Löhne in der DDR nach den erhöhten Normen ausgezahlt wurden. Montag, 15. Juni 1953: Nach vier Wochen und nachdem sie einen neuen Tarifvertrag durchgesetzt hatten, nahmen die Westberliner Bauputzer die Arbeit wieder auf. Daß dieser bis dahin längste Streik in Westberlin von den Ostberlinern tatsächlich verfolgt wurde, bestätigen heute Zeitzeugen wie Günter Sandow und Heinz Homuth, die damals auf den Baustellen an der Stalinallee arbeiteten und dann zu den Anführern des Aufstandes gehörten.

Dienstag, 16. Juni: „Die Welle der Streikaktionen steigt weiter an“, schrieb das ND über die Tarifauseinandersetzungen im Westen. Und befaßte sich in großer Aufmachung mit einem historischen Ereignis: Vor 105 Jahren, genau am 14. Juni 1848, sei das Zeughaus Unter den Linden in Berlin Mittelpunkt revolutionärer Ereignisse gewesen. Volksmassen, allen voran die Arbeiter, stürmten es, um sich zu bewaffnen und die Rechte des Volkes zu verteidigen, war zu lesen. Die Propaganda schien auf ihre Urheber zurückzufallen. Am selben Tag marschierten die Bauarbeiter der Stalinallee. Am 17. Juni folgte der allgemeine Aufstand.

1952 und 1953 forderten in Westdeutschland insgesamt etwa 200 Berufsgruppen höhere Löhne. Das Statistische Jahrbuch verzeichnete für 1952 etwa 440.000 Streiktage, für 1953 etwa 1,5 Millionen. Über 2.500 Betriebe waren 1952 von Arbeitskämpfen betroffen. 1953 etwa 1.400.

Das bürgerliche Lager trug zum Teil schwere verbale Angriffe vor. Die Gewerkschaften mißbrauchten die Lohnkämpfe um „einen Guerillakrieg gegen Wirtschaft, Parlament und Regierung zu inszenieren“, hieß es zum Beispiel. Ein Zeitungskommentar sprach von „totalitären und faschistischen Denkweisen“ in der Gewerkschaft. Daneben immer wieder der Vorwurf, der anderen Seite anzugehören: Die Betriebsräte seien mit Kommunisten besetzt; in der IG Bergbau gäbe es dreißig Prozent Kommunisten, behauptete höchstselbst Kanzler Adenauer. Es war folgerichtig, daß sich das Interesse an einem Aufstand der Arbeiter im Osten bei den Eliten des Westens in Grenzen hielt. Sie fürchteten, ein Aufstand in einem Teil Deutschlands könnte auch für den anderen Folgen haben.

Am Nachmittag des 17. Juni wurde der Aufstand von sowjetischen Truppen niedergeschlagen. Noch am selben Tag bewilligte die US-Administration der Bundesregierung erstmals eine Militärhilfe von 340 Millionen Dollar. Am 18. Juni wurden im Westteil planmäßig die dritten Internationalen Filmfestspiele von Berlin eröffnet. Gary Cooper kam. Am 19. Juni verdoppelte der Bundestag den Bundesgrenzschutz auf 20.000 Mann. Im Februar war der Antrag noch abgelehnt worden.

Sonntag, 21. Juni: Der DFB-Vorstand hielt unverändert daran fest, das Endspiel um die westdeutsche Fußballmeisterschaft in Berlin durchzuführen. Der 1. FC Kaiserslautern gewann gegen den VfB Stuttgart 4:1. War nicht alles in Ordnung?

Thomas Moser, 41, Journalist und Politologe, arbeitete an dem Buch „Die solidarische Kirche in der DDR“ (Basisdruck, Berlin 1999) mit. Er lebt in Berlin