Kasse zahlt alles    ■ Von Fanny Müller

Es war Visite, daher mußte ich im Zuge meiner Aktion „Kranke besuchen Kranke“ eine Stunde im Aufenthaltsraum eines Hamburger Krankenhauses verbringen, bevor ich einer Kollegin den gesammelten Blumenstrauß der Firma überreichen konnte. Brigitte (Tabuthema: Darmsanierung) ist schnell weggelesen, ebenso die Neue Frau und Freundin. In ca. drei Minuten habe ich einen Überblick über die wichtigsten Schönheitskliniken gewonnen, über 20 neue Nudelrezepte, 19 neue Sommerkleider und echte wahre Lebensgeschichten.Was jetzt?

Kaum sitze ich mal irgendwo fünf Minuten, dann kommen Leute und erzählen mir ohne Punkt und Komma ihr Leben, obwohl ich nie eine Fernsehkamera dabeihabe.Wie es mir geht, hat allerdings noch keiner gefragt. Diesmal kommt eine alte Dame hereingewackelt und setzt mich sogleich ins Bild. Ihr Mann ist vor sechs Wochen gestorben, nachdem er morgens noch ein Brötchen gegessen und Caro-Kaffee getrunken hatte. Sogar rasiert hatte er sich noch, was aber total für die Katz war, denn um zehn Uhr war er hin. Obwohl sie sich gegenseitig versprochen hatten, daß sie gemeinsam sterben wollten. Noch vor einem dreiviertel Jahr, als sie im Zug nach Düsseldorf gesessen war, hatte sie unterwegs einen jungen Mann kennengelernt und war mit ihm „über Gott und die Welt und über Freitod“ ins Gespräch gekommen. Da hatte der auf einmal eine Pistole gezogen und gesagt, das sei für ihn kein Thema. „Können Sie mir auch so eine besorgen?“ hatte sie gefragt. „Null Problemo.“ Danach tauschten sie Telefonnummern aus, und sie gab ihm einen Schein, aber was war? Nichts. Sie hatte später die Nummer angerufen, aber das waren Leute, die von nichts wußten. So geht es in der Welt zu.

Diese Vereine für humanitäres Sterben oder was, die taugen auch nichts. Die wollen einem nichts schicken, Sie wissen schon, Tabletten und so, aber Mitglied soll man werden, für 95 Mark im Jahr. „Damit die sich ein schönes Leben machen“, werfe ich ein. „Genau!“ Jetzt komme sie gerade vom Mittagessen, da habe sie noch ordentlich zugelangt, weil sie morgen operiert werden soll, und da gibt es abends nichts mehr. Das Essen hier sei so lala, aber im Marien-Krankenhaus, wo sie mit dem Infarkt ... da sei es wirklich sehr gut gewesen. Kartoffeln, soviel man wollte. Allerdings wäre das nichts gegen das AK Wandsbek. Da habe man unter vier Gerichten wählen dürfen, und Apfelmus gab es immer extra. Daraus mache sie sich allerdings nichts. Zur Beerdigung, kommt sie jetzt wieder auf ihren verstorbenen Mann zurück, seien die Töchter beinahe zu spät gekommen, die sind nämlich beide in Afrika verheiratet, aber nicht mit N..., mit Schwarzen, sondern mit Raketeningenieuren bei der Deutschlandwelle. Jedenfalls sowas Ähnliches, man kann sich ja nicht alles merken. Den Töchtern habe sie gesagt, daß sie ebensogut gleich hierbleiben könnten bis zu ihrer Beerdigung, vielleicht ginge ihre Operation ja schief.

Die Idee des Suizids und dessen Ausführung scheinen mir zwei verschiedene Dinge zu sein. Immerhin hatte die Frau schon vier Herzoperationen hinter sich. Hätte sie da nicht auf eine verzichten können? Nein: „Das zahlt doch alles die Kasse!“

Auch wieder wahr.