Probe auf die Wirklichkeit

Christa Wolf und Irmtraud Morgner waren auch im Westen anerkannte Schriftstellerinnen. Ines Geipel stellt in einem Buch vier Autorinnen vor, deren Literatur zu DDR-Zeiten keine Chance hatte  ■ Von Peter Walther

Literatur von Frauen in der DDR – das war während der achtziger Jahre in den germanistischen Seminaren westlich der Elbe ein Dauerbrenner: Die Bücher von Helga Königsdorf, Irmtraud Morgner und Christa Wolf boten die willkommene Projektionsfläche für emanzipatorische Ideen, deren visionärer Charakter in bezug auf die realsozialistische Wirklichkeit keiner Probe unterworfen war. Wer im In- und Ausland die DDR-Literatur repräsentieren durfte, stand bereits am Ende einer nicht immer nur von literarischen Gesichtspunkten geleiteten Auslese.

Ines Geipel, Herausgeberin der Werke von Inge Müller (1996), hat sich in den vergangenen Jahren dagegen für jene Autorinnen und Texte interessiert, die aus unterschiedlichen Gründen auf der Strecke geblieben sind. Die Ergebnisse liegen nun als Buch vor: „Die Welt ist eine Schachtel. Vier Autorinnen in der frühen DDR“. Das Buch enthält neben sorgfältig kommentierten literarischen Texten auch Materialien zur Lebensgeschichte der Autorinnen, Kurzporträts sowie zahlreiche Fotos.

Von den vorgestellten Frauen dürfte einzig Susanne Kerckhoff (1918 – 1950) dem breiteren Publikum ein Begriff sein. Die Tochter des Literaturwissenschaftlers Walther Harich und Halbschwester des Philosophen Wolfgang Harich war bereits im Dritten Reich mit einigen ästhetisch und politisch harmlosen Romanen in Erscheinung getreten. Ihr Horizont war von der Offenheit des literarischen Lebens in den zwanziger Jahren bestimmt; Gottfried Benn, Klabund, Carl Sternheim und Erich Kästner gehörten zu den Gästen in der elterlichen Wohnung am Kurfürstendamm. Während des Krieges hilft sie verfolgten Juden mit Unterkunft und Pässen. 1948 tritt Susanne Kerckhoff in die SED ein, wird Feuilletonchefin der Berliner Zeitung, aktives Mitglied diverser Organisationen und verfaßt literarische Texte.

Im vorliegenden Band sind ihre „Berliner Briefe“ an einen fiktiven Empfänger abgedruckt, den emigrierten jüdischen Freund Hans. Diese Briefe geben nicht nur einen spannenden Einblick in den Alltag der Nachkriegsjahre, sie sind zugleich als immer neue Ansätze der Selbsterklärung und des Abwägens von geistigen Alternativen zu lesen. Für Susanne Kerckhoff ist der millionenfache Mord an Juden im Namen des deutschen Volkes entscheidend für ihre Sicht auf die Nazi-Vergangenheit. Wenig später bringt sie diese Haltung um Kopf und Kragen. Die Verwicklungen und Hintergründe, die zu einer Kampagne der SED-Spitze gegen Susanne Kerckhoff führten, sind von Ines Geipel minutiös nachgezeichnet worden. Ein politisches Ränkespiel, in dem sich Stephan Hermlin und ihr Halbbruder Wolfgang Harich besonders unrühmlich hervorgetan haben.

„Das sind die lieben Kinder, die Scherzchen machen und dann das Gas aufdrehen“, hatte Susanne Kerckhoff ihrer in Japan lebenden Mutter in einem Brief geschrieben. Getrennt von der Familie, zermürbt von den Angriffen, nimmt sie sich im März 1950 das Leben. Ein Gedenkbuch, von Arnold Zweig und Paul Rilla herausgegeben, bleibt nach ihrem Tod für lange Zeit das einzige literarische Echo dieses Lebens.

Eveline Kuffel (1935 – 1978), deren Familie in den Westen geflüchtet war, studierte Bildhauerei an der Berliner Kunsthochschule. Während die meisten der etablierten Künstler und Literaten 1961 den Mauerbau begrüßten, weil jetzt, ungestört vom Klassenfeind, die große gesellschaftliche Diskussion beginnen könne, begriff Eveline Kuffel den Mauerbau als das, was er war: einen Akt von Freiheitsberaubung. In Kurzgeschichten und Gedichten schreibt sie gegen die einengende Wirklichkeit an, noch einmal „dem knöchernen Käfig / feuchtzitternder Hände, / in Schweiß, dem Tode nahe / entwischt“ (“Mauer“).

Sie verkehrt in den unterschiedlichsten Kreisen kritischer Künstler und Literaten, macht Bekanntschaft mit Wolf Biermann, Manfred Krug und Horst Hussel, gehört zum Freundeskreis von Norbert Randow und Henryk Bereska und gerät beinahe automatisch ins Visier der Staatssicherheit. Private Katastrophen und berufliche Perspektivlosigkeit leiten den Abstieg ins Land- und Stadtstreicherdasein ein. 1978 stirbt Eveline Kuffel an den Folgen eines Schwelbrandes in ihrem Bett und wird anonym bestattet. Zurückgeblieben sind ihre Gedichte, Zeugnisse des Versuchs, sich ihrer von Ausgrenzung geprägten Existenz schreibend zu versichern.

Acht Jahre vor der Veröffentlichung von Christa Wolfs „Kassandra“-Buch schreibt die 24jährige Autorin Hannelore Becker (1951 – 1976) an einem Kassandra-Drama, in dem sie mit dem letzten Rest an sozialer Utopie bricht. Dieses Drama steht am Ende ihrer literarischen Produktion und ihres kurzen Lebens. Bereits als Studentin hatte Hannelore Becker erste Gedichte veröffentlicht. Im gleichen Jahr wird die knapp Zwanzigjährige vom MfS angeworben. Sie berichtet der Stasi vier Jahre lang, etwa über ihre Bekanntschaft mit Franz Fühmann und Wolfgang Heise, und soll als Informantin auf Jürgen Fuchs angesetzt werden. Die junge Autorin wird SED-Mitglied, bekommt ein Promotionsstipendium und beginnt gleichzeitig, sich von der vorgezeichneten Karriere zu verabschieden. Sie bittet die Stasi um Entpflichtung, verläßt die Universität und verdingt sich als Verkäuferin in einem Modehaus. Im Februar 1976 begeht Hannelore Becker Selbstmord. Hinterlassen hat sie ein literarisches Werk von schmalem Umfang und hoher Konzentration: „Aber die stille / fällt aus den uhren / beim schlagen (...) Ach diese stille / all unsre lügen / erstickt sie“, heißt es in einem der Gedichte. „Ihre Kreativität“, schreibt die Herausgeberin über Hannelore Becker, „wird kalkuliert mißbraucht, bevor sie eine eigene Sprache gefunden hat“.

Jutta Petzold (geb. 1933) gehört zur Generation von Eveline Kuffel, aber mit ihren Interessen und ihrer Literatur steht sie auf eigenartige Weise über der Zeit. Ines Geipel hat einige Gedichte, Kurzprosa und ein Drama aus dem unveröffentlichten Werk der Autorin zusammengestellt. In ihrer Tragikomödie „Vaticanantur nox caliginis visus“, die groteske Geschichte einer Expedition zum Alpha Centauri, die zum Alptraum wird, spielt Petzold souverän mit den narrativen Mitteln der Moderne, wechselt von der Parodie zur Groteske, gibt Notenanweisungen für den Chor und läßt die Figuren abwechselnd Französisch und Englisch reden.

Die innere Freiheit, die Jutta Petzold im Schreiben gewinnt, und ihre ästhetische Unbestechlichkeit machen diese Texte zu einer kleinen Sensation: „Winter, deine Schönheit wurzelt / Am Auge. / Bei anderen wurzelt sie schmatzend / Am Daumen.“ Das hat mit sozialistischem Realismus oder dem artigen Rebellentum ihrer schreibenden Altersgenosinnen nichts zu tun. Das Politische dieser Texte besteht in ihrer gänzlichen Abkehr von der tristen ästhetischen und sozialen Wirklichkeit; sie entstammen einer anderen Sphäre, einer durch die Lektüre antiker Autoren und der klassischen Moderne geweiteten Perspektive, und kommen der Wirklichkeit doch näher als das meiste, was Schriftstellerinnen ihrer Generation in der DDR geschrieben haben.

„Die Welt ist eine Schachtel. Vier Autorinnen in der frühen DDR. Susanne Kerckhoff, Eveline Kuffel, Jutta Petzold, Hannelore Becker“. Hrsg. u. kommentiert von Ines Geipel, Transit Verlag, Berlin 1999, 295 Seiten, 38 Mark