Geheime Einsätze

Aufruhr in Italiens Presse: Der Dirigent Igor Markevitch soll die „Brigate Rosse“ unterstützt haben  ■   Von Frieder Reininghaus

Vom Stoff für einen Krimi der feinen Sorte sind die italienischen Zeitungen seit dem vergangenen Wochenende erfüllt: Hat ein international renommierter Künstler den „Brigate rosse“ Unterschlupf bereitgestellt? Hat er gar im Fall des entführten Ministerpräsidenten Aldo Moro den Terroristen die entscheidende logistische Hilfe gewährt?

Bevorzugt auf den Titelseiten wird von Indizien berichtet, die den Dirigenten Igor Markevitch schwer belasten – und durch begleitende Interviews werden die Verdachtsmomente geschürt bzw. entkräftet. Es handelt sich dabei um ein delikates Gesellschaftsspiel. Denn Markevitch selbst und seine von den Vorwürfen tangierte zweite Ehefrau, die hochadlige Topazia Caetani, sind beide längst gestorben. Er 1983 in Antibes im Alter von 71 Jahren, sie 1991.

Vom öffentlichen Diskurs hat das niemand abgehalten – auch nicht die seriösen Blätter. Am Montag beschäftigte sich beispielsweise der ansonsten angesehene Corriere della Sera – hübsch artig in Frageform und Konjunktiven – auf Seite 1 mit der Frage, ob nicht doch in der Schweiz das santuario, die Wallfahrtskapelle der ominösen Organisation gelegen habe. Denn dort, „bei Lugano und Bellinzona, lebte Igor Markevitch, der die Rotbrigadisten in einem seiner Häuser in Florenz während der Operation Moro beherbergt haben soll.“

Die Staatsanwaltschaft Brescia ermittelt in dieser Sache – und stieß (was in Musikerkreisen ohnedies bekannt war) auf den Hinweis, daß der Musiker über einschlägige Erfahrungen aus den vierziger Jahren verfügte. Insbesondere ins Visier der juristischen und journalistischen Ermittler geraten ist das römische Domizil von Topazia, der ererbte Palazzo in der Via Caetani. Ausgerechnet vor seinen Fenstern wurde Aldo Moro am 9. Mai 1978, nach 55 Tagen „Volksgefängnis“, erschossen in einem Auto aufgefunden. War die Zwangsherberge für den christdemokratischen Spitzenpolitiker womöglich höchst aristokratisch und wurde er auf dem allerkürzesten Weg entsorgt – direkt vorm Portal?

Zunächst: Den Freund(inn)en der klassischen Musik, insbesondere den Liebhabern historischer Aufnahmen ist Markevitch zumindest noch durch die singuläre Einspielung Mozartscher Klavierkonzerte mit Clara Haskil in Erinnerung: klar, unprätentiös, schnörkellos, unpathetisch, sachlich. Doch warum soll ein Kapellmeister nur Orchesterleuten Einsätze geben und nicht auch noch ganz andere Einsätze leiten? Zum Beispiel militärische – wie Robert Satanowski, der Oberst der Polnischen Armee war, bevor er Generalmusikdirektor in Poznan und dann in Warschau wurde.

Daß nun gerade Igor Markevitch in den Verdacht geriet, einem illegalen Kommando angehört, ihm wenigstens logistische Hilfe geleistet oder gar als Gehirn gedient zu haben, ist nicht verwunderlich. Denn Person und Biographie dieses Pianisten, Komponisten und Dirigenten eignen sich bestens für solche heißen Zuschreibungen – und nicht einmal auszuschließen ist, daß mehr an der Geschichte wahr ist, als schöngeistige Musikfreunde wahrhaben wollen. Bereits 1940, als er freiwillig die sichere Schweiz verließ, nach Florenz ging und dort die Partisanen gegen den Terror der SS und der deutschen Wehrmacht unterstützte, kam der aus dem ukrainischen Adel stammende Markevitch in Berührung mit jener anderen Welt, die dem Reich der „holden Kunst“ diametral entgegengesetzt scheint.

Freilich braucht es nicht viel Phantasie, um zu begreifen, daß gewisse Tugenden der einen Sphäre unter gewissen Umständen auch in der anderen nützlich sein können; gerade auf dem Gebiet von Organisation und Koordination.

Der sensible, energische und politisch links engagierte Dirigent als Drahtzieher des Terrorismus? Es fällt allen, die ihn noch persönlich gekannt haben, schwer zu glauben.

Markevitch, 1912 in Kiev geboren und mit den Eltern als Kind in die Schweiz gelangt, erhielt dann in Paris Klavierunterricht bei Alfred Cortot – das war genauso vom Feinsten wie die Unterweisungen im Komponieren durch Nadia Boulanger. Er geriet in den Kreis um Jean Cocteau und vertonte Texte von diesem großen Anreger der neusachlichen Moderne.

Auch komponierte er, unter dem Einfluß von Strawinsky,Psalmen, Balett-Musiken, einen „Cantico d'amore“ und eine Kantate auf Lorenzo il magnifico, den prächtigen Florentiner, dessen Stadt ihn 1940 anlockte. 1944, nach der Befreiung, leitete er den „Maggio musicale“, das links orientierte Kulturfestival in der toskanischen Hauptstadt.

Freilich dirigierte Markevitch, von dessen Engagement für die sowjetische Linie des Kommunismus man wußte, in den 50er und 60er Jahren auch die Stockholmer Philharmoniker, arbeitete in Montreal, Boston, Havanna (!), Monte Carlo, Madrid und Moskau (dort erteilte er einige Zeit Dirigierunterricht am Konservatorium). Er hatte 1957 bis 1961 die legendären Concerts Lamoureux in Paris geleitet; 1973 bis 1983 war der Arbeitsschwerpunkt in Rom.

Noch ist nicht abzusehen, was die Ermittlungen in Sachen Markevitch/Topazia an harten Fakten zutage fördern. Möglich oder zumindest denkbar scheint heute so gut wie alles, zumal in den Grauzonen des Ringens um eine bessere zukünftige Welt.

Zu erwägen wäre freilich auch von vorneherein, daß da – mit italienischer Grandezza – eine monströse Seifenblase aufgepustet wird, wie der Sohn des posthum Beschuldigten argwöhnt – der Dirigent Oleg Caetani nennt die Zurechnung seines Vaters zum Guerilla-Milieu schlicht eine „gigantische Farce“. Die „blonde Topazia“, so war zu lesen, habe von ihrem Palais aus die Polizisten beobachtet, die den Leichnam Aldo Moros entdeckten.

Oleg Caetani versicherte dem Corriere, seine Mutter sei zeitlebens dunkelhaarig gewesen. Sein Vater habe nie ein eigenes Haus in Italien besessen, er habe Hotels bevorzugt; in Florenz habe er in der Regel bei dem Kunstkritiker Bernard Berenson gewohnt. Nur in der Schweiz habe er ein Haus gehabt – allerdings nicht dort im Tessin, an der Grenze zu Italien, wo die Unterstützerszene des Terrorismus vermutet wurde, sondern in Vervey in der Westschweiz.

Aber vielleicht weiß der als Künstler längst selbst renommierte Sohn noch gar nicht vom ganzen Erbe, das da auf ihn zukam. Wie auch immer: das Ganze ist am ehesten ein Stoff für den Nobelpreisträger Dario Fo – und fürs Theater: „... und dirigiert wird doch!“