50.000.000 Walzerfans Can't Be Wrong

Popstar und Pionier der Unterhaltungsindustrie: Vor 100 Jahren starb Johann Strauß jr. in Swinging Vienna  ■ Von Dietrich Roeschmann

Dezember 1998: Im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins wird eine gigantische Medienmaschinerie aufgefahren. Sattelschlepper fahren vor, Kabel werden verlegt, Kameras aufgestellt. Pünktlich zum Jahresbeginn soll das traditionelle Neujahrskonzert weltweit in einer Milliarde Haushalte zu empfangen sein. Man erwartet das Konzert der Konzerte, die Ouvertüre zu einem 365tägigen Spektakel anläßlich des 100. Todesjahres von Johann Strauß.

Seit diesem Abend haben die Marketingstrategen ganze Arbeit geleistet: Derzeit steht ein Zusammenschnitt der „schönsten Melodien“ des Komponisten auf Platz 3 der deutschen Pop-Charts. Mehrere Dutzend neuer Strauß-Bücher bieten Anekdotisches für den Nachttisch, biographische Geheimnisse oder Kochrezepte im Walzertakt. Schirme, T-Shirts, Kuscheltiere und Kaffeetassen sind via Internet erhältlich, in Wiener Konditoreien hat die Strauß-Nougatkugel längst ihre Konkurrentin mit Mozart-Konterfei verdrängt. Johann Strauß ist Entertainment – war es schon zu Lebzeiten in einem weitaus radikaleren Maße als jeder andere Komponist des 19. Jahrhunderts.

Vor allem seine Walzer waren es, die Strauß zu einem Pionier des Pop machten. Während andere Wiener Orchester noch vorzugsweise ihre traditionellen, dem Ländler und dem Steyrischen verpflichteten Tänze spielten, arbeitete er bereits mit großem Glamouraufwand an der Überwindung des Authentischen. Im Vordergrund stand bei ihm das kleine, verstreute Gefühl, in Bewegung gesetzt durch das Schwingen und Kreisen eines Dreivierteltakts, schwindelerregend, rauschhaft, mit einem deutlichen Drang zur Unendlichkeit. Diese Bewegung hatte eine Zentrifugalkraft, die Strauß-Walzer von vorneherein aus dem strengen System der ernsten Musik heraus-katapultierten. „Sound statt Sinndonner“, wie Klaus Theweleit sagen würde, Rausch statt Regelwerk. Dafür nannten sie ihn „Walzerkönig“ wie sie Elvis Presley ein Jahrhundert später „The King“ nannten.

Doch zunächst war er nur ein Unternehmer. 1849 hatte er im Alter von 24 Jahren den Betrieb seines Vaters – das lukrative Johann-Strauß-Orchester – geerbt und die erfolgreichen Tanzmusikgeschäfte des Alten zu einem florierenden Konzern ausgebaut. Er ernährte die Familie und forderte von ihr zugleich bedingungslose Loyalität. Die Brüder Josef und Eduard wurden als Dirigenten verpflichtet, obwohl sie eigentlich anderes im Sinn hatten. Ab 1862 übernahm Strauß' erste Frau, die Sängerin Henriette „Jetty“ Chalupetzky-Treffz, das Management und die PR, sie sorgte für die gepflegte Erscheinung ihres Mannes und auch für seinen Sex-Appeal: für die schlanken Hosen, für die gezähmte, später auch nachgefärbte Haarpracht, für die Angleichung seiner Barttracht an die des Kaisers, der seine Genehmigung dafür persönlich aussprach.

Wahnsinniger weiblicher Enthusiasmus

Die Straußsche Imagepolitik setzte auf die Erscheinung, auf den Körper des Dirigenten. Schon früh erwähnen zeitgenössische Quellen, daß seine Haltung eine entscheidende Komponente seiner Aufführungen war. Sein Oberkörper schwang im Takt der Musik, als könne er sich nur mit Mühe der Gewalt des Rausches entziehen, den er selbst mit dem Taktstock ausgelöst hatte. Wurde es laut, stampfte er mit den Füßen, als könne er nicht anders, wurde es zart, reckte sich seine Geige ausgewählten Frauenkörpern im Saal entgegen, scheinbar ohnmächtig und dennoch unbeirrt selbstbezogen. Der Einsatz seines Körpers als öffentlicher Körper machte ihn zum König wie nur ein Popstar König sein kann: zum Repräsentanten eines Lebensgefühls, das zwischen dem ständigen Versprechen eines glanzvollen Lebens und seinem permanenten Aufschub als köstliches Surrogat heraussickerte. Die heimliche Lüge, die darin steckte – daß vor dem Pult des Dirigenten das Waschmädel und die kaiserliche Vertraute wenigstens für einen Moment lang gleich seien – gehörte damals wie heute zur Logik dieses Mythos. Strauß' Publikum verstand und holte sich, was es von einem Lust- und Luxusmann wie ihm erwarten konnte: Ekstase vor dem Thron, maximale Zerstreuung, die in den endlosen Schleifen des Dreivierteltaktes nur zwei Optionen kannte: Ohnmacht oder Raserei. Noch im gesetzten Alter von 61 Jahren mußte Strauß auf einer Rußlandreise von der Polizei vor „den Gefahren eines fast wahnsinnigen weiblichen Enthusiasmus“ geschützt werden, wie sein Biograf Rudolph Procházka berichtet. Verärgerte Ehemänner forderten den Komponisten zum Duell und ließen sich erst davon abbringen, als er ihnen die hundertfach in Nebenzimmern gelagerten Blumenbuketts seiner Verehrerinnen ge- zeigt hatte.

Strauß' stardom zahlte sich unterdessen in barer Münze aus. Mit ihm an der Spitze entwickelte sich das Familienunternehmen in den späten 1860er Jahren zum Marktführer der Wiener Unterhaltungsbranche. Der Erfolg spiegelte sich in den Besucherzahlen der Ballveranstaltungen, zu denen bis zu 10.000 Menschen kamen. Auch der Absatz der jeweiligen Klavierauszüge erreichte Dimensionen, von denen Komponisten bis dahin nur träumen konnten. Seit der Uraufführung seiner „heimlichen Nationalhymne“, der Walzerfolge „An der schönen, blauen Donau“ im Jahr 1867, war die Notenpresse des Wiener Verlegers Carl Haslinger zur Gelddruckmaschine geworden.

Komponiert wurde in der Regel unter Zeitdruck, meist vor den Orchesterproben, bei denen die Rohfassung zur Aufführung am gleichen Abend fertiggestellt wurde. Schon der Vater hatte diese Form des kollektiven Komponierens gepflegt, weil sie bei minimalem Aufwand maximale Effizienz ermöglichte. Gespielt wurde, was gefiel – auch unter Verzicht auf eigene Vorlieben. Über den Erfolg seiner „Bauernpolka“ etwa notierte Strauß verwundert: „Selbst die Orchestermitglieder vergaßen, daß die Komposition ein elender Schmarr'n ist. Aber das Publikum brennt förmlich auf dieses Zeug und macht solches zu einem Wunderding.“ Daß viele dieser Walzer tatsächlich zu „Wunderdingern“ wurden, war nicht zuletzt den überaus modernen Vertriebsstrukturen des Unternehmens Strauß zu verdanken. War ein Tanz am Abend erfolgreich, ging er am nächsten Tag in die Reinschrift und von dort aus direkt in die Druckerei und die Werkstätten, wo die Lochscheiben für die zahllosen Drehorgeln in Wien hergestellt wurden. In kürzester Zeit war die Musik beim Endverbraucher.

Melodiensammler mit Tauschwertgespür

Bedeutender für die Rationalisierung der „Musikalischen Productionen Strauß“ aber war Strauß' Entscheidung, das Dirigentenpult seinen Brüdern zu überlassen und sich selbst dem Komponieren zu widmen – zumindest soweit er sich das als Idol der Massen erlauben konnte. Diese Arbeitsteilung garantierte eine zügigere Fabrikation der Walzer bei gleichbleibend hoher Qualität des Materials. Statt für Tanzsäle begann Strauß seine Programme nun mehr und mehr für das Konzertpublikum auszuarbeiten. Neben Neuheiten aus eigener Produktion nahm er auch Verdi-Arien mit ins Repertoire, die er für den Tanzboden neu arrangiert hatte, oder stellte Wagners „Tannhäuser“-Ouvertüre vor, bevor diese auch nur ein einziges Mal an der Oper aufgeführt worden war. Während seine Evergreens so endlich salonfähig wurden, machte er damit zugleich die Avantgarde seiner Zeit populär – und kopierte wiederum viele ihrer Neuerungen für die eigene Produktion. Strauß hatte begriffen, daß nicht Originalität den Massenerfolg von Musik garantierte, sondern vor allem das Verschalten und Verwerten musikalischer Intensitäten. Dabei spielte es keine Rolle, ob sie aus eigener oder fremder Feder stammten: Ein Star war er schließlich nicht, weil er Autor war, sondern ein zwanghafter Melodiensammler mit sicherem Gespür für den Tauschwert seiner Musik. Der Ausbau des einfachen Tanzstücks zum Medley, den er mit „An der schönen, blauen Donau“ erfolgreich vorgeführt hatte, war ein erster Schritt auf diesem Weg, der später in Alterswerken wie dem „Kaiserwalzer“ mündete: rauschende Crossover-Symphonien aus modernisierten Folklorismen, großzügigen Samples der Musik des Vaters, deutlichen Anleihen bei Komponistenkollegen und einer Unmenge an Selbstzitaten.

Die Premieren solcher Novitäten dirigierte er noch selbst, alles weitere übernahm die Familie: Verbreitung, Verwaltung, Vermarktung – weltweit. Als Johann Strauß 1876 zur 100-Jahr-Feier der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung nach Boston eingeladen wurde, erwarteten ihn dort an drei Tagen jeweils 100.000 Zuhörer. Wegen der „elektrisierenden“ Wirkung seiner Walzer als „Electric Strauß“ angekündigt, dirigierte er ein Orchester von 2.000 Musikern und bekam dafür 100.000 Dollar – eine für damalige Verhältnisse unfaßbare Gage. Die Konzerte wurden, trotz der Behäbigkeit dieses monströsen Orchesters, ein voller Erfolg. In seiner „Elektro-magnetischen Polka“ (op. 110) und den „Telegraphischen Depeschen“ (op. 195) hatte Strauß zwar schon Jahre zuvor die Errungenschaften seiner Zeit gefeiert, doch die Entwicklung der Technik war noch weit davon entfernt, daß ein Salonorchester eine Halle von der Größe zweier Fußballfelder hätte beschallen können. „Am nächsten Tage“, schrieb Strauß nach Wien, „mußte ich vor einer Armee Impresarios die Flucht ergreifen, die mir für eine Tournee durch Amerika ein ganzes Kalifornien versprachen“.

Unterwegs vom Sinn zum Sound

Nach Wien zurückgekehrt, war Johann Strauß einer der reichsten Männer Österreichs. Als Millionär begann er für die Bühne zu schreiben – und schreiben zu lassen. Für seine Operetten etwa verließ er sich auf die Arbeit des Komponisten und Librettisten Richard Genée. Strauß selbst, der für die Mehrzahl seiner Werke sämtliche Tantiemen bezog, lieferte lediglich die Melodien. Alles andere – Text, Harmonie, Instrumentation – überließ er Genée, dessen Arbeit er am Ende nach Belieben korrigierte. Von seiner „Fledermaus“ etwa stammt bis auf die Ouvertüre und den Csárdás jede Note aus Genées Feder. Strauß war nur noch Supervisor der Musik, die unter seinem Namen aufgeführt wurde. Er nahm damit eine Produktionsweise vorweg, die im Bereich des Musicals und des Popsongs später zur Regel wurde.

Der Erfolg, den er mit seinen Walzern hatte, wiederholte sich auf der Bühne allerdings nur mit der „Fledermaus“ und dem „Zigeunerbaron“. Das übrige Dutzend Operetten überlebte kaum ihre erste Saison. Auf dem Weg in die Hallen der Hochkultur hatte Strauß offenbar vergessen, daß dort immer noch der Sinn und nicht der Sound regierte. Auch die tollste Ouvertüre vermochte seine erbärmlichen Operetten-Libretti nicht zu retten. Als Johann Strauß am 3. Juni 1899 starb, beerdigte man eine Legende: einen gealterten Star, dessen Name sich als erste Trademark der Unterhaltungsindustrie längst verselbständigt hatte. Top-Charts-Strauß:

André Rieu: 100 Jahre Strauß (Universal/ Polygram) Schmuckkassetten-Strauß:

Johann Strauß – Jubiläums-Edition 1999 der Wiener Philharmoniker. 8 CDs, viele Dirigenten (Universal/ Polygram) Norbert Linke: Johann Strauß. Rowohlt 1998, 186 S., 12,90 DM Anton Mayer: Johann Strauß – Ein Pop-Idol des 19. Jahrhunderts. Böhlau Wien 1998, 250 S., 39,80 DM