Menschen werden wie Teppichrollen fixiert

■ Claudia Roth, Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte im Bundestag, über den Umgang mit Asylbewerbern. Der Tod eines Sudanesen darf nicht folgenlos bleiben

taz: Frau Roth, zum wiederholten Mal ist ein Asylbewerber bei der Abschiebung gestorben. Welche Konsequenzen muß die Politik daraus ziehen?

Claudia Roth: Dieser Fall muß uns aufschrecken und empören. Wir müssen uns die Frage stellen, wie stabil in unserem Land das Fundament für die Menschenrechte ist. Es muß nun eine Überprüfung unseres Umgangs mit Flüchtlingen stattfinden. Das Prinzip der sicheren Drittstaaten und das der sicheren Herkunftsländer müssen überprüft werden. Die Frage lautet, kann man Menschen guten Gewissens in ein Land wie den Sudan zurückschicken?

Ist es vertretbar, einen Menschen in den Sudan abzuschieben?

Ein Land wie den Sudan, in dem es zahlreiche Menschenrechtsverletzungen gibt, kann man nicht als sicheres Herkunftsland bezeichnen. Die Gegenwehr des Sudanesen macht macht ja deutlich, welch große Angst er vor der Rückführung in die Heimat hatte.

Welche Länder würden Sie noch als unsichere Herkunftsländer bezeichnen?

Ich kritisiere, daß es nach wie vor ein Rücknahmeabkommen mit Jugoslawien gibt. Die Grünen haben wiederholt gefordert, dieses zu kündigen. Es wurde aber lediglich ausgesetzt. Ein weiterer Skandal: Ab dem 1. Juni gibt es die Möglichkeit, daß algerische Sicherheitskräfte abzuschiebende Landsleute in der Bundesrepublik abholen. Ich halte es für unmöglich, daß der Bundesgrenzschutz auf dem deutschen Flughafen seine Befugnisse an Polizisten aus diesem undemokratischen Land übergibt. Die Menschen sind möglicherweise gerade vor diesen Sicherheitskräften geflohen. Das könnte ein Präzedenzfall werden.

Außerdem ist es ein Skandal, daß Bayern Flüchtlinge nach Albanien, Makedonien und Bosnien-Herzegowina abschiebt. Die instabile Lage in diesen Ländern wird sich durch die Abschiebungen noch verstärken. Innenminister Beckstein sagte, auf einige wenige abgeschobene Flüchlinge käme es da auch nicht mehr an. Das ist eine zynische Sicht der Dinge. Er sagte auch, es habe sich um Straftäter gehandelt. Das stimmt nicht in jedem Fall.

Was werfen Sie der Bundesregierung in diesem Zusammenhang vor?

Die Lageberichte aus dem Auswärtigen Amt geben in einzelnen Fällen nicht die tatsächliche Lage in den Herkunftsländern wieder. In einem Lagebericht aus dem Kosovo vom April stand, daß es keine Verfolgung von Kosovo-Albanern gebe. Dieser Bericht ist nun für null und nichtig erklärt worden.

Jetzt kommt es darauf an, wie zum Beispiel der in Kürze zu erwartende Bericht aus der Türkei aussehen wird. Ob er tatsächlich die Situation in der Türkei wiedergibt oder ob er auch darauf gerichtet ist, ablehnende Gerichtsentscheidungen zu legitimieren. Wir wissen, daß dort gefoltert wird.

Welche Schritte fordern Sie jetzt von der Bundesregierung?

Ich will die grundsätzliche Überprüfung von Dauer und Art der Abschiebehaft. Deutschland muß außerdem seine Vorbehalte gegen die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen zurücknehmen. Unbegleitete Kinder und Jugendliche bis 18 Jahren dürfen nach der Konvention nicht abgeschoben werden. In Halle hat sich vor einigen Monaten ein 15jähriger Junge aus Indien in der Abschiebehaft erhängt. Soweit darf es nicht kommen.

Wie müßte die Abschiebepraxis verändert werden, so daß es zu keinen weiteren Todesfällen mehr kommt?

1994 starb ein Mann bei der Abschiebung an einem Herzversagen, nachdem er geknebelt worden war und eine Beruhigungsspritze bekommen hatte. Danach kündigte das Innenministerium neue Richtlinien an, die wir bis heute nicht kennen. Wir müssen jetzt im Parlament darüber reden, daß Menschen bei der Abschiebung wie Teppichrollen fixiert werden und mit welchen Mitteln sie am Schreien gehindert werden. Eine weitere Frage muß geklärt werden: Welche Medikamente können bei Menschen, die unter starkem Streß stehen, gesundheitsgefährdend wirken?

Es gab auch Todesfälle bei Abschiebungen aus Belgien und Österreich. Müßte es nicht europaweit geltende Richtlinien geben?

Ja, es reicht nicht aus, das auf nationaler Ebene zu diskutieren. Wir wissen, daß europaweit koodinierte Abschiebungen geplant sind. Jetzt müssen auch die Richtlinien vereinheitlicht werden.

Interview: Tina Stadlmayer