Kein Sinn für Fehler

Die Abenteuer der Nato im Wunderland. Der Normalbetrieb der Systeme und deren ökologische Katastrophe. Einige Überlegungen mit Alices Hilfe  ■ Von Dirk
Baecker

Es fällt schwer, im dritten Monat des Krieges der Nato gegen Serbien seiner Arbeit nachzugehen, sich kulturell zu zerstreuen oder, am Sandkasten sitzend, dem Spiel der Kinder zuzuschauen, ohne sich immer wieder zu fragen, was da vor sich geht. Man empört sich, und gewöhnt sich an die eigene Empörung. Man zweifelt an der Verurteilung des Kriegs, und zweifelt dann wieder an diesem Zweifel. Man versteht sich ständig als Adressat irgendeiner Mitteilung über den aktuellen Zustand der Gesellschaft, die man nur zu gut versteht und dennoch nicht verstehen kann. Denn keinem Zweifel unterliegt, daß diese Gesellschaft sich ständig im Kriegszustand befindet, auch im tiefsten Frieden. An ihren Rändern ist sie gegen sich selbst bewaffnet, in Downtown Berlin ebenso wie in der Altstadt Jerusalems, in den Gefängnissen dieser Welt ebenso wie an den Rändern ihrer Slums.

Gerade deswegen ist es paradoxerweise leicht, den Krieg zu vergessen. Der Krieg, das sind wir selbst. Wir müssen das vergessen. Nur die Empörung gegen dieses Vergessen ist noch leichter, denn es nimmt die Einsicht nicht ernst, die im Satz vom Normalzustand des Krieges steckt. Seit es eine bürgerliche Gesellschaft gibt, ist der Satz hinfällig, daß die Gesellschaft auf Ausgrenzung beruht. Um so stärker muß sie sich gegen diejenigen schützen, die vielfach unwillkürlich an Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Erziehung, Recht und organisierter Religion nicht teilnehmen können, weil ihnen für das eine System irgendeine Voraussetzung fehlt, eine Adresse zum Beispiel, und sie daher andere Voraussetzungen nicht erwerben können, die sie für andere Systeme brauchen.

Diese Leute werden weder ausgeschlossen noch ausgebeutet, das würde sich gar nicht lohnen. Aber sie sind da, und sie werden immer mehr. Gegen sie befindet sich die Gesellschaft im Krieg, weil ihr massenhaftes Auftreten die Sensoren unserer Funktionssysteme verstopft. Sie werden nicht bekämpft, das hat Michel Foucault gezeigt, sondern sie werden eingeschlossen, und dies zur Not gewaltsam. Dafür brauchen wir den Krieg mitten im Frieden.

Aber ist das auch die Situation der Nato in Jugoslawien? Hat man es in Serbien mit Leuten zu tun, die den Anschluß an die moderne Gesellschaft verloren haben und nun Ansprüche erheben, dennoch zum Zuge kommen zu können? Nichts wäre einfacher, als ihnen politisch, wirtschaftlich, wissenschaftlich und kulturell entgegenzukommen.

Mir geht eine andere Erklärung durch den Kopf. Kürzlich hat Helena Waldmann im Berliner Podewil eine wunderbare choreographische Adaption von Alices Abenteuer im Wunderland gezeigt unter dem Titel „Cheshire Cat“, der einzigen Figur im ganzen Märchen, die Alice entgegenkommt und auf ihre Bitte hin, nicht immer so plötzlich zu verschwinden und wiederaufzutauchen, ganz langsam und Stück für Stück verschwindet und wiederauftaucht.

In einem der Abenteuer sucht Alice im Haus des Hasen nach dessen Stock und Handschuhen, nascht von ihrem Kuchen und wächst mit einem Mal so sehr, daß sie kaum noch Platz im Zimmer hat. Sie muß ihren Fuß in den Kamin stecken und ihre Hand aus dem Fenster heraushalten. Der Hase kommt nach Hause, kann die Tür nicht öffnen, weil Alices Ellenbogen gegen sie drückt, und will durch das Fenster kommen. Aber das verhindert Alice. Sie wedelt mit der Hand, und der Hase purzelt, davon getroffen, in ein Gewächshaus. Er holt Hilfe, man berät sich, will das Haus anstekken, um herauszutreiben, wer darin steckt, Alice wedelt wieder mit der Hand, und wieder purzelt die ganze Gesellschaft mit Klirren ins Gewächshaus.

Ich muß gestehen, ich mußte dabei an die Nato denken, und will damit in keiner Weise irgend etwas verharmlosen. Die Nato ist zu groß geworden in dieser Welt. Sie fürchtet sich wie Alice, ohne zu wissen, daß sie sich vor niemandem fürchten muß. Sie steckt fest, wedelt mit den Händen und nimmt die Opfer in Kauf, die das kostet. Der Krieg der Nato in Jugoslawien ist eine ökologische Katastrophe. Zunächst ist er im Sinne des Wortes eine Katastrophe des Umweltschutzes, von dem sich erst jetzt zeigt, daß wir doch nicht bereit zu sein scheinen, ihm vor den Menschenrechten den höheren Rang einzuräumen. Darüber hinaus jedoch ist er eine ökologische Katastrophe in dem Sinne, daß er offenlegt, wie prekär die verschiedenen Systeme, die sich in dieser modernen Welt ausdifferenziert haben, aufeinander abgestimmt sind. Die Nato ist eine Institution, die keinen Sinn für ihre Fehler hat. Die amerikanischen und europäischen Kriegsherren treiben eine Politik, die den militärischen Sieg braucht, weil die politische Niederlage nicht mehr von der Hand zu weisen ist. Zugleich suchen sie fieberhaft nach einer Möglichkeit, eine Maschinerie abzustellen, der sie selbst den Sieg verordnet haben. Die serbische Diktatur gewinnt immer wieder neuen Zündstoff aus einer erfolgreichen Inszenierung eines Isolationsgefühls, das nach psychiatrischer Einsicht schon immer der beste Kriegstreiber war. Westeuropäische Intellektuelle halten ihren Streit im Feuilleton für Einflußnahme auf die Politik, ohne doch etwas anderes tun zu können, als sich untereinander zu streiten.

Dieser Krieg ist eine ökologische, also durch die Nichtintegration miteinander zusammenhängender Systeme ausgelöste beziehungsweise in Gang gehaltene Katastrophe, weil er auf allen Seiten vom Verhalten von Blindgängern gekennzeichnet ist. Man könnte den Verdacht haben, daß es vor allem diese Eigenschaft ist, in der er noch einmal alle Kriege dieses Jahrhunderts zusammenfaßt. Niemand will diesen Krieg, niemand versteht diesen Krieg, aber alle gehen hin, weil er jeder Systemlogik in den Kram paßt.

Clintons sexuelle Verlegenheiten werden vergessen. Die amerikanische Armee kann endlich ihre „unsichtbaren“ Bomber erproben, und es kommt ihr sogar zugute, daß sie militärisch alles andere als Ruhmesblätter beschreibt, denn das immerhin simuliert den Krieg unter realen Bedingungen. Die Intellektuellen entrüsten sich. Die Wissenschaftler beschreiben. Der Papst mahnt. Die Hilfsorganisationen helfen. Die Leute spenden. Die Medien berichten. Und die Politiker treffen sich.

Das ist der Normalbetrieb. Es ist gar nichts geschehen. Alles läuft wie gehabt. Aber mittendrin, zwischen allen Systemen, sterben Menschen. Das ist das Gespenstische. Wir waren noch nie so nah dran und sind gleichzeitig unendlich weit davon entfernt. Das kann ja auch gar nicht anders sein, wenn die Anschauung fehlt. Nichts kann sie ersetzen, davon muß man ausgehen, um einen Sinn für die Dinge zu entwickeln. Eine ökologische Katastrophe ist dadurch gekennzeichnet, daß es niemanden gibt, der mit Opfern rechnet. Sie unterlaufen. Man rechnet in den Begriffen, Worten, Codes des eigenen Systems. Und das ist in jedem Fall auf Fortsetzung geeicht, niemals auf Unterbrechung, denn das erst wäre der Ernstfall.

Paßt der Verdacht, daß diese Gesellschaft sich grundsätzlich im Krieg befindet, zur Diagnose des Krieges als ökologischer Katastrophe? Hat sich die Monopolisierung der Gewalt durch den Staat, um die sich seit Hobbes die moderne Gesellschaft bemüht, selbst in eine jener ökologischen Gefahren verwandelt, durch die die moderne Gesellschaft sich gefährdet weiß, ohne zu wissen, was sie dagegen tun soll? Warum wissen wir sowenig über den Zusammenhang von Gewalt und Gesellschaft? Immerhin wissen wir jetzt, daß man als Machthaber von der Situation genauso überfordert ist wie jeder andere Beobachter. Das ist kein Trost. Aber eine Erkenntnis. Doch es könnte sein, daß es sich bei der Situation gar nicht um eine politische handelt. Sie wird politisch ausgenutzt, und zwar mit dem Risiko der Verstärkung der ökologischen Katastrophe, das um so größer ist, je weniger man weiß, womit man es zu tun hat.

Vielleicht haben wir es bereits mit einer jener Eruptionen zu tun, die Heinz von Foerster mit seinen Mitarbeitern in der Zeitschrift Science bereits 1960 prognostizierten, als sie feststellten, daß die Zeit, die die Weltbevölkerung braucht, um sich zu verdoppeln, gegen 2026 auf null fällt. Zu diesem Zeitpunkt würde die Weltbevölkerung entgegen allen demographischen Beruhigungsversuchen explodieren. Das jedoch ist physikalisch unmöglich, so daß man im Vorfeld dieses Zeitpunktes mit allen möglichen Versuchen des Bevölkerungssystems rechnen muß, diesen Systemzustand gar nicht erst zu erreichen. Das Fatale ist, daß nur Katastrophen helfen, wenn nicht die Auswanderung in den Weltraum ohne Rückticket in Erwägung gezogen wird.

Ist das das Szenario? Liegt die „evolutionäre Errungenschaft“ des Kriegs in Jugoslawien wie auch vieler anderer, weniger beachteter Kriege in den letzten Jahren und Jahrzehnten darin, daß die moderne Gesellschaft Eruptionen und deren „Management“ probt? Müssen wir unsere Gesellschaftsbeschreibungen auf demographische Statistiken im Kontext einer Gesellschaft umstellen, die den Zugriff auf natürliche Ressourcen in demselben Maße verstellt, wie sie an den Erfolg ihrer Funktionssysteme glaubt? Und ist Serbien jener Ernstfall einer Risikogemeinschaft, die auf ethnische Homogenität setzen muß, um das Vertrauen und die Not zu organisieren, die es erlauben, sich auf den Ernstfall vorzubereiten? Nur wenige Bücher wären dann so hellsichtig wie Wolfgang Pohrts „Brothers in Crime“ (Berlin 1997) über die Menschen, die sich „im Zeitalter ihrer Überflüssigkeit“ in Gruppen, Cliquen, Banden, Rakkets und Gangs organisieren. Wir landen in der Science-fiction im besten Sinne des Wortes. Aber das zeigt nur, wie sehr wir uns unserer Situation bewußt sein können.

Alice jedenfalls war nur dadurch zu helfen, daß die ganze Gesellschaft mit Steinchen nach ihr warf, die sich in Kuchenstücke verwandelten, von denen Alice in der Hoffnung aß, wieder kleiner werden zu können. Und so war es. Sie wurde klein genug, um aus dem Haus weglaufen zu können und sich, kaum erkannt von der Gesellschaft, in den Wald zu flüchten.