Die Suche nach Sadie

Die junge Kosovo-Albanerin Sadie wurde auf der Flucht angeschossen und liegt in einem albanischen Militärkrankenhaus. Zu ihr vorzudringen kommt einer Odyssee gleich. Soldaten wollen niemanden vorlassen. Um ihr Hilfe anzubieten – sie ist gelähmt und muß operiert werden –, müssen allerlei Kontakte mobilisiert werden.  ■ Aus Tirana Petra Welzel

Viele Geschichten liegen in diesen Zeiten auf den Straßen Albaniens, diese beginnt in der Gosse. Es ist Freitag, später Nachmittag. Ich stehe umgeben von Müll an der Hauptstraße von Durräs nach Tirana, auf der Höhe eines von der italienischen Hilfsorganisation Misericordia eingerichteten Flüchtlingscamps.

Zwischen Lagerzaun und Straßengraben befindet sich ein fünf Meter breiter Saum aus staubtrokkenem Sand und Kies. Es ist der Zufluchtsort derjenigen unter den 440.000 Flüchtlingen aus dem Kosovo, die im überfüllten Auffanglager keinen Platz mehr gefunden haben. Unter grauen, auf Holzpfähle gespannten Wolldecken suchen Frauen Schutz vor der brennenden Sonne. Sie tragen nur noch Rock, Unterhemd und BH.

Es gibt hier keinen Platz mehr für Vertriebene, nirgendwo. Wo überhaupt noch ein Fleckchen frei ist, türmt sich der Müll. Und je größer die Haufen sind, um so mehr Kinder sitzen darauf. Es stinkt. Staub belegt die Zunge, der Lärm der Autokolonnen betäubt die Ohren.

Auch Kadri und Avni stehen inmitten des Unrats. Die beiden jungen Männer mit ihrer hawaigeblümten Strandtasche sind Kosovo-Albaner aus Deutschland und fragen sich, ob es einen Ort in diesem Land gibt, an dem es noch schlimmer ist als hier. In Deutschland haben sie Geld gesammelt und verteilen jetzt die 5.195 Mark an die Bedürftigsten unter den vielen Flüchtlingen.

Kadri, ein 19jähriger Fachhochschüler aus Augsburg, groß und hager mit schwarzem Haar, und Avni, ein 20jähriger Student aus München, kräftig, untersetzt, und aschblond, ziehen eine Liste mit Beträgen und Unterschriften aus der Strandtasche.

„Schau, wir lassen uns das quittieren, wenn wir jemandem Geld geben.“ Die Spender zu Hause sollen nicht denken, daß sie die Kollekte verpraßt hätten. Untergebracht seien sie bei Verwandten in Durräs. Flüchtlinge auch unter ihnen. Die zwei haben viele Geschichten zu erzählen.

Doch eine Geschichte macht Kadri besonders betroffen. In Durräs habe er eine alte Schulfreundin getroffen und über sie die 24jährige Lutfie Sadiku aus Zhabari in der Nähe von Mitrovica im Kosovo kennengelernt. Man habe sie auf dem kalten Steinfußboden im Militärhospital von Tirana aufgesammelt, ein Häufchen Elend nur noch, in Pantoffeln, Pullover und Hose. Serben seien vor etwa zwei Wochen in ihr Dorf eingedrungen, erzählte sie, hätten wild herumgeschossen, die Menschen vertrieben und alle Häuser in Brand gesetzt.

„Lutfies 20jähriger Schwester Sadie haben sie dabei die Niere durchschossen“, sagt Kadri. Sie habe nicht mehr laufen können, und Lutfie habe sie deshalb auf den Rücken ins nächste Dorf getragen, um sie dort in eine ärztliche Ambulanz zu bringen. Doch auch von dort wurden sie von den Milizen vertrieben. „Lutfie schaffte ihre Schwester noch bis zur Hauptstraße, von wo sie ein Traktor nach Kukäs mitgenommen hat. Ein Hubschrauber brachte sie dann nach Tirana ins Militärkrankenhaus.“

Die Familie hätten sie auf der Flucht verloren. Ob ich vielleicht für Sadie etwas tun könne? „Ich habe Lutfie 100 Mark gegeben. Aber was kann sie damit machen? Ihre Schwester muß in ein Krankenhaus im Westen, sonst bleibt sie gelähmt“, sagt Kadri.

Drei Tage später stehe ich mit Edi, einem albanischen Freund, nachmittags um halb fünf vor den Toren des Militärhospitals. Das Krankenhaus liegt in einem Viertel, das man Braque nennt und von dem behauptet wird, hier sei die albanische Mafia zu Hause. Als wir die holprige Straße entlangfahren, überholt uns mit Sirenen ein Polizeiwagen und stoppt vor einer Bank: ein Überfall. 200 Meter bewacht eine Handvoll Soldaten das Krankenhaustor. Durchs Gitter erklären wir, daß wir auf der Suche nach einer schwerverletzten Kosovarin seien. Einer der Soldaten winkt müde ab. Ohne Sondergenehmigung des Verteidigungsministeriums käme hier kein Journalist rein.

In diesem Moment kommt der Chef der Truppe mit drei UÇK-Kämpfern vom Hauptgebäude. Sie werden entlassen und stecken schon wieder in ihren Tarnanzügen.

Der kleine, drahtige Sicherheitschef wird zu uns herübergerufen, betrachtet die Papiere, um dann zu wiederholen, ohne Verteidigungsministerium laufe nichts. Erst als ein Sicherheitsbeamter in Zivil dazustößt und sich ziemlich wichtig macht, kommt Bewegung in die Sache. Er schickt den Sicherheitschef in die Aufnahme, nach Sadies Namen auf der Patientenliste zu suchen. Währenddessen richtet einer der Soldaten seine Kalaschnikow auf mich. Er grinst.

Als der Chef zurückkehrt, bestätigt er, daß eine Sadie Sadiku auf der Liste sei, aber man habe sie zum Röntgen abgeholt. Wenn sie zurückkomme, dann könnte ich sie vielleicht sprechen. Vielleicht.

Auf der Rückfahrt fällt Edi ein, daß er einen Chirurg des Militärhospitals kennt. Am Mittwoch abend, meinem letzten Abend, haben wir ihn endlich ausfindig gemacht. Wir verabreden uns für den nächsten Morgen um 7 Uhr.

Vor dem Krankenhaustor reicht ein Wink des Chirurgen, um uns samt Auto passieren zu lassen. Wir warten. Er kommt mit einer Akte unterm Arm zurück: „Sadie ist hier. Aber sie hat keinen Nierenschuß, sondern einen Wirbelsäulendurchschuß und ist ab der Hüfte abwärts gelähmt. Kommen Sie, wir gehen zu ihr.“ Aber einer der Wachposten hält uns auf: Jemand hat mich wiedererkannt.

Der Chirurg geht in die Offensive und greift sich den Direktor des Krankenhauses, einen kleinen knubbeligen Mann, der gerade mit Zigarette und wehendem Kittel aus dem Hauptgebäude eilt. Zwei Minuten später sitze ich in seinem abgedunkelten Büro. Auf dem Tisch liegt die Offizierskappe des Direktors. Er hört zu, raucht, brummt und geht. Ich warte.

Eine Frau kommt mit acht Weißbroten in ihren speckigen Armen vorbei. Nach 10 Minuten kehrt der Direktor mit fünf Ärzten, einer Schwester und einer Krankenakte zurück. Ein Radiologe mit tiefen Augenringen im hageren Gesicht stellt sich mir vor: „Wir können deutsch miteinander reden. Kommen Sie wieder mit rein.“

Der Schuß hat Sadie den 12. Wirbel zertrümmert und zur Stütze der Wirbelsäule müsse man eine Metallplatte einsetzen. Die Operation könne man wohl machen, aber für die notwendige Rehabilitation gebe es in Albanien keine einzige Einrichtung.

Der Neurologe sagt, es wäre sicher das Beste für die Patientin, wenn man sie in einem anderen Land behandeln würde. Am liebsten würde er sie mir gleich mitgeben. Mir wird erlaubt, Sadie zu besuchen. Zum Abschied lächelt er mich zum ersten Mal freundlich an und sieht dabei aus wie der brave Soldat Schweijk. Als wir schließlich über den Haupteingang in den linken Flügel gehen wollen, hält uns ein älterer Offizier mit kahlgeschorenem Schädel, breitbeinig und mit vor der Brust verschränkten Armen in der Tür stehend, auf: „Die kommt hier nicht rein.“

Der Radiologe sagt: „Ich bin zwar auch Soldat, aber in erster Linie Arzt, also gehen wir jetzt da rein.“ Faßt mich am Arm und führt mich an dem Glatzkopf vorbei.

Im Inneren des Krankenhauses blättert von den blaugrauen Wänden die Farbe, und es riecht nach allen erdenklichten Ausdünstungen, nur nicht nach den im Hospital sonst üblichen Desinfektionsmitteln. Auf der Station fragt der Radiologe nach Sadie, der Kosovarin. Ein Mädchen ruft uns zu: „Die ist hier.“

In dem Zimmer stehen vier Betten, in denen unter anderem zwei Kleinkinder mit deformierten Beinen gerade gewickelt werden. Sie schreien. Um Sadies Bett stehen die Mutter, ein Bruder und zwei kleinere Geschwister. Die Familie ist mittlerweile also auch in Tirana eingetroffen.

Sadie liegt steif in ihrem Bett, zugedeckt bis zur Brust mit einer oliven Wolldecke, auf der steht: „Bundeswehreigentum“. Über ihrer Stirn liegt ein heller Wollenschal, unter dem ihre schwarzen Locken hervorquellen und das blasse, schmale Gesicht rahmen. Die Mutter, eine Bäuerin mit Kopftuch und langem Rock, wiegt wehklagend ihren Oberkörper. Der Bruder steht mit dem linken Arm in einer Schlinge fassungslos daneben.

Ich bekomme eine Gänsehaut, stelle mich ans Bettende und halte mich daran fest. Über dem Bett haften einen Moment meine Augen auf einem zusammengerollten Papierfetzen mit der Nummer 23.

Der Radiologe erklärt, wer ich bin und daß ich versuchen möchte, Sadie zu helfen, wenn ich das kann und sie das denn möchte. Er muß Sadie beruhigen, die erregt und verängstigt ist, nach Luft ringt und mit ihren Armen wedelt, als er von Operation und Rehabilitation spricht. Sie weint. Schluchzend bringt sie ein paar Worte heraus: Sie wolle nach Deutschland. Und sie habe Angst vor der Operation.

Ich fasse nach ihrer rechten Hand, um sie zu beruhigen. Ihr Arm ist dünn, die Hand schwach und dennoch versucht sie die meine fest zu drücken. Und ihre Hand ist fast heiß, als hätte sie Fieber. Sadie und alle anderen sehen mich erwartungsvoll an, auch die Krankenschwester, die jetzt die Krankenakte samt Röntgenbildern zusammengerollt an ihre Brust gepreßt hält. Ich verabschiede mich. Es ist 8.30 Uhr als wir das Krankenhaus verlassen. Ich habe noch sieben Stunden bis zu meinem Abflug. Sadie Sadiku aus Zhabari hat keine Zeit mehr.