„Alle dachten, wir wären tot“

Erschöpft und ausgemergelt kommen freigelassene Männer aus dem Kosovo über die Grenze nach Albanien. Sie berichten über vier Wochen Haft und Mißhandlungen in serbischen Gefängnissen  ■ Aus Kukäs Erich Rathfelder

Die Jeans und die Lederjacke sind schmutzig, das Gesicht des jungen Mannes ist von dem Erlebten gezeichnet. Die Augen liegen tief, die Wangen sind knochig. Agim Gulori (Name von der Redaktion geändert) vermag kaum mehr zu sprechen. Erst nach einem Schluck Wasser, nach ein paar Bissen Brot kann er sich konzentrieren.

Der 32jährige unverheiratete Mann ist einer der mehr als tausend Gefangenen aus serbischen Gefängnisse, die am Wochenende über die Grenze nach Albanien gekommen sind. Er gehört zu jenen, die nach dem Willen des Diktators in Belgrad wie Figuren auf dem Schachbrett hin und hergeschoben wurden. Er ist einer von jenen, die seit zwei Monaten in Todesangst leben mußten. Hinter sich die brennenden Häuser seines Heimatdorfes, befand er sich schon auf dem Weg in Richtung Albanien, als er und seine Familie zur Umkehr gezwungen wurden. Was er dann erlebte, haben Tausende von Männern, die mit ihm in den Gefängnissen saßen, ebenfalls durchgemacht.

Agim Gulori hat zwischen 1994 bis 1997 in Deutschland gelebt. Der Maschinenbaustudent hatte einen Asylantrag gestellt. „Die Behörden in Kempten haben meinen Antrag abgelehnt, das Leben im Kosovo sei normal, sagten die Angestellten.“ Ein Anflug von Lächeln erscheint in seinem Gesicht. „Die wissen ja genau Bescheid“, sagt er in fast akzentfreiem Deutsch.

Am 26. März dieses Jahres habe er zusammen mit seiner kränkelnden 67jährigen Mutter, dem noch älteren Vater, dem Bruder mit dessen Frau und Kindern, seinen Heimatort am Rande der Stadt Kosovska-Mitrovica verlassen müssen.“Sie kamen, schossen, zündeten die Nachbarhäuser an. Wir ließen alles stehen und liegen, nahmen alles Geld, die Ausweise und rannten davon.“Eine befreundete Familie in einem einige Kilometer entfernten Dorf habe die Familie aufgenommen. „Wir schliefen immer in Kleidern; wir rechneten alle mit einer neuen Polizeiaktion.“

Am Morgen des 23. April war es soweit. Agims Bericht zufolge begannen die serbischen Truppen das Dorf zu beschießen. Sie hatten es umstellt. Es gab keinen Fluchtweg. Nachdem die Soldaten in die Häuser eingedrungen waren, mußten alle Geld und Wertsachen abgeben. Danach wurde ihnen befohlen, zur albanischen Grenze zu gehen.

„Es war eine lange Kolonne,“ erinnert sich Agim. „Wir hatten kein Fahrzeug; wir gingen zu Fuß. Wir stützten unsere Mutter, die schlecht laufen kann. Fünf Tage waren wir unterwegs, fünf Tage in Regen und Sturm, doch wir schafften die einhundert Kilometer.“ Dann lag die albanische Grenze vor ihnen, und sie glaubten schon, sie hätten es geschafft. Doch die Kolonne wurde von serbischen Soldaten gestoppt. „Die Grenze ist geschlossen, ihr müßt hier in diesen Häusern bleiben,“ hätten die Soldaten gerufen.

Weitere vier Tage voller Ungewißheit verbrachte die Familie in den Ruinen eines Dorfes, deren Bewohner bereits vertrieben worden waren. Dann kam der Befehl umzukehren. Sie sollten zurück in ihr Heimatdorf. Wieder machten sie sich auf den Weg. Die Mutter konnte kaum durchhalten. Drei Tage brauchten sie für die kürzere Strecke über die Region Drenica.

In Skenderaj (Srbica), einer Stadt inmitten der Drenica-Region, stießen sie auf eine Kontrollstelle. Die serbischen Polizisten nahmen 250 Männer aus der Kolonne heraus fest. Die übriggebliebenen zogen weiter. Auch Agim und sein Bruder. Als sie Mitrovica schon sehen konnten, das nur noch einen Kilometer entfernt lag, gerieten sie wieder in eine Polizeisperre. Jetzt wurden auch Agim und sein Bruder festgenommen, wie alle anderen noch nicht verhafteten Männer im wehrfähigen Alter von 18 bis 55 Jahren. Insgesamt waren es 50 Personen. Sie wurden in das Gefängnis von Mirovica gebracht. „Sie haben uns in einen kleinen Raum gesteckt, niemand konnte sich setzen, so voll war es. Wir standen vier Tage lang in diesem Raum. Wer auf die Toilette mußte, wurde geschlagen, so machten einige lieber in die Hose.“ Nach dieser Tortur wurden sie schließlich nach Skenderaj zurücktransportiert. Dort trafen sie wieder auf die 250 Männer, die dort verhaftet worden waren. „Sie brachten uns alle zusammen in das Gefängnis von Smrekovnica, das südlich Mitrovica an der Straße nach Pritina liegt.“

„Das Schlimmste war die Enge des Raums“, sagt Agim. „Wir waren 80 Männer in einem Zimmer, das vielleicht fünf mal sechs Meter groß war. Es stank bestialisch. Die Männer wurden bei den Verhören mit Gummiknüppeln und Fäusten geschlagen. Da selbst auf den Gängen noch Gefangene untergebracht waren, machte sich das Wachpersonal einen Spaß daraus, die Schlafenden mit Gummiknüppeln zu schlagen.“

Die hier angestellten Wärter, so Agim weiter, verhielten sich zwar relativ normal. Die zehn Spezialpolizisten aber, die zusätzlich eingesetzt waren, nahmen keinerlei Rücksicht, „vor allem, wenn sie betrunken waren“. Einem Gefangenen wurden nur zum Gaudium der Polizisten mit einem Gummiknüppel 70 Schläge auf die Hände verpaßt. Noch heute sind die Hände des Mannes bis zur Unkenntlichkeit angeschwollen.

Sami Berisha aus Shtifarica, Bejram Feka und Ibrahim Bushkolli aus Vushtri waren Mitgefangene. Auch sie sprechen von der Folter, den Polizisten, den wahlosen Schlägen. Zu Essen gab es ein Stück Brot mit etwas Schafskäse und Wasser. Durchfall war die Folge. Alle sind bis auf die Knochen abgemagert.

Aber sie haben überlebt. Sie stehen mit Tränen in den Augen an dem Grenzübergang auf der albanischen Seite, und sie sprechen über den Haß der Serben auf die Albaner. „Sie zwangen uns, ,Es lebe Serbien, es lebe Jugoslawien, es lebe Slobodan Miloevic!' zu rufen. Sie nahmen uns das Geld mit den Worten: ,Wir nehmen nur zurück, was wir euch gegeben haben.' „

Das Schlimmste sei die Ungewißheit gewesen, sagt Agim. Als sie vor Stunden in den Bus gesetzt wurden, der sie bis fünf Kilometer an die Grenze brachte, glaubten manche, sie würden erschossen werden. „Du weißt einfach nicht, was passieren wird, sie machten Witze über Massengräber.“

Agim späht hinüber zum Grenzübergang. Er hofft, daß endlich sein Bruder auftaucht. Eine neue Kolonne von Gefangenen kommt an. Die ausgemergelten und vor Schmutz starrenden Neuankömmlinge sinken in die Arme der Wartenden. Niemand schämt sich seiner Tränen. Doch Agim ist enttäuscht, der Bruder ist nicht dabei. Immerhin weiß er ihn im Gefängnis, das Schicksal seiner Eltern und der Frau und Kinder seines Bruders kennt er nicht. Nur eines weiß er: daß er die Hoffnung nicht aufgeben darf. „Alle haben doch gedacht, wir wären schon längst ermordet worden, aber wir leben noch.“

„Du weißt einfach nicht, was passieren wird, sie machten Witze über Massengräber.“