Kunstsinn mit Oberkellner

George Tabori, der am Montag 85 wird, schrieb 1943 einen Roman über den Faschismus. Nun erscheint „Gefährten zur linken Hand“ auf deutsch  ■   Von Michael Schweizer

Stefan Farkas reist wieder einmal nach San Fernando, an die italienische Riviera. Ungewöhnlich daran ist nur der Zeitpunkt: Sommer 1943. Farkas, gebürtiger Ungar, hat einen Schweizer Paß, und seine Boulevardstücke laufen so gut, daß er Urlaub machen kann, als wäre gerade nichts los auf der Welt. Das hat er eigentlich immer getan. Er hält die Erde für einen unheilbar unwirtlichen, aber amüsanten Platz. Die Armen sind zwar langweilig, doch die Oberschicht ist bühnenwirksam. Für Geschichte interessiert sich Farkas nicht, für Politik schon gar nicht.

Wenige Tage nachdem er in San Fernando angekommen ist, schließt Italien am 8. September 1943 Waffenstillstand mit den Alliierten. Die Deutschen befreien den im Juli abgesetzten, von der Regierung des Marschalls Pietro Badoglio gefangenen Mussolini und setzen ihn als Chef der sogenannten Republik von Salò (am Gardasee) ein. In Nord- und Mittelitalien bilden sich – auch rivalisierende – antifaschistische Widerstandsgruppen. Die Deutschen und die italienischen Faschisten reagieren mit Massakern.

Farkas würde sich gerne auch da heraushalten, aber San Fernandos faschistische Honoratioren suchen die Nähe des berühmten Schriftstellers. Er mag sie nicht, kann aber mit ihnen reden, schließlich sind es Leute aus seiner Schicht, und manche kennen seine Stücke. Sein gebildetster Gesprächspartner steht auf der anderen Seite: Giacobbe di Bocca will ihn für die kommunistische Sache gewinnen. Von ihm lernt Farkas, wie die Armen des Ortes leben; er sieht ein, daß Giacobbe recht hat, möchte sich aber nirgends beteiligen. Dann kommen der Waffenstillstand, die lokale Revolution und dann die Deutschen. Deren Oberst schickt Farkas als Emissär zu den Aufständischen: Wenn Giacobbe sich hinrichten läßt, werden die anderen verschont.

Vorbild für Farkas war der erfolgreiche Boulevarddramatiker Ferenc Molnár (1878 – 1952), ein ungarischer Jude, der rechtzeitig nach New York emigrieren konnte. George Tabori zeichnet Farkas als Repräsentanten einer ganzen Kultur. Man konnte irgend etwas sehr gut, zum Beispiel schreiben, singen (Leo Slezak) oder komponieren (Emmerich Kálmán). Das betrieb man mit Hingabe, ohne es ernst zu nehmen. Man lebte im Kaffeehaus, war seine eigene Anekdote und mußte immer für ein Bonmot gut sein; stets gab es dann einen Oberkellner, der den Spruch weitertrug. Wer Geld und Kunstsinn hatte, brauchte nie erwachsen zu werden. Farkas' Frauenbild stammt direkt aus der Operette.

Farkas' Gegenfigur, sein Lebensthema, ist sein Bruder Daniel. Er verkörpert alles, was Stefan zu anstrengend war: Arbeit um der Sache willen, Integrität, Liebe. Daniel ist todkrank. Mit Hilfe seiner Frau Anna übersetzt er Dantes „Göttliche Komödie“, sie schaffen 200 herrliche Wörter am Tag, und wahrscheinlich wird Daniel sterben, bevor er das „Purgatorium“ abgeschlossen hat – eines von Taboris kräftigen, allzu kräftigen Symbolen. In der Hellsicht des nahen Todes weiß Stefan, daß er alles für Daniel geschrieben hat: „so ist es nämlich man schreibt für einen einzigen Menschen nicht für das Publikum oder Geld nicht für Fremde oder Kritiker.“

„Gefährten zur linken Hand“ liest sich weitgehend, als wäre es von Stefan Farkas. Der Roman ist spannend. Er überzeugt, wo ein kalt blickender Autor einen Menschen oder eine Situation anhand von ein paar Details charakterisieren kann, wo die Oberfläche das Wesen ist: „Sie war häßlich, weil sie tot war; ihr Mund war offen und ihre Augen blickten dumm und tot.“ Schwächer wird Tabori, wo Farkas' Menschenwissen nicht ausreicht, vor allem bei der Beschreibung von Frauen und Arbeitern. Hier gelangt der Autor nicht weit über die Klischees seiner Hauptfigur hinaus.

Farkas hätte den Roman einfach linear heruntererzählt, mit allen clever angewandten alten Tricks. Tabori macht über lange Strecken dasselbe, aber dann – schließlich dreht es sich ja um Farkas' Scheitern – will er mehr: Er wechselt die Perspektive. Statt weiter dem allwissenden Erzähler in seiner Konzentration auf Farkas zu folgen, lesen wir nun in dessen Tagebuch. Damit geht Daniels Wunsch in Erfüllung, sein Bruder möge endlich über sich selbst, soll heißen: ehrlich, schreiben. Aber Farkas hat sich bis dahin nicht geändert, die beiden Sichtweisen unterscheiden sich nicht. Und Giacobbes ebenfalls in Ich-Form vorgetragener Bericht über den lokalen Aufstand ist passagenweise so ironisch, daß er von Farkas sein könnte. Tabori hat Farkas' Weltsicht mit keiner Alternative kontrastiert, sondern nur mit der Form dafür.

Der 1914 geborene Tabori, wie Molnár ein Jude aus Ungarn, schrieb seinen zweiten, jetzt erstmals auf deutsch erhältlichen Roman im November 1943 auf dem Flüchtlingsschiff, das ihn von Kairo nach Liverpool brachte. Das Buch ist seinem Vater Cornelius Tabori gewidmet, der in Auschwitz ermordet wurde.

Wie ging es weiter? Es ist kein Zufall, daß Tabori ausgerechnet zwei von den wenigen lustigen Sätzen des Romans ungefähr 40 Jahre später noch einmal verwendet, nämlich in dem Theaterstück „Peepshow“ (Uraufführung 1984). Einer davon heißt dort: „Ich sag dir, Willie, heutzutage sterben Leute, die früher nicht gestorben wären.“ „Gefährten zur linken Hand“ fragt, wie angesichts einer auf neue Art fürchterlichen Welt das Farkassche Schreiben zu überwinden wäre. Später, als Bühnenautor, machte Tabori jedoch etwas ganz anders: Er trieb mit und aus Entsetzen Scherz, über Männer und Frauen, über Gott, über die Gaskammern. Er schreibt wie Farkas, aber über eine Welt, über die dieser nie geglaubt hatte, schreiben zu müssen.

George Tabori: „Gefährten zur linken Hand“. Roman. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Wend Kässens. Aus dem Englischen von Ursula Grützmacher-Tabori. Steidl Verlag, Göttingen 1999, 366 Seiten, 38 DM

„Ich sag' dir, Willie, heutzutage sterben Leute, die früher nicht gestorben wären.“