Reif und schicksalserfahren

■ Vor 50 Jahren wurde die Bundesrepublik Deutschland gegründet. Eine Erfolgsstory – aber kein Modell, wie nationalistisch verblendete Gesellschaften zivilisiert werden können. Ein Blick aus polnischer Perspektive

Auch aus polnischer Perspektive erscheinen heute die 50 Jahre der Bundesrepublik als eine Erfolgsstory. Bei ihrer Gründung noch ein Paria, ist sie heute der geachtete Libero in Europa, um den sich lauter Spielfreunde scharen, die ihrerseits die europäische Mannschaft mit dem Euro-Emblem auf dem Trikot wiederum zum globalen Aufsteiger des letzten Jahrzehnts machen. Dieses Bild mag allzu glatt (und ein wenig platt) erscheinen – dennoch ist es wahr.

Die gute deutsche Kondition ist nur im Kontext der europäischen Wiedergeburt zu begreifen, die die amerikanische Deutschland-Korrespondentin Elizabeth Pond – trotz des achtjährigen „jugoslawischen Nachfolgekrieges“ – in ihrem jüngsten Buch „The Rebirth of Europe“ (Washinghton 1999) feststellt. Für sie ist das „europäische Wunder“ durch die Flucht der Westeuropäer vor den nationalistischen Gespenstern der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts nach vorn, zu den supranationalen Vereinigungen, gekennzeichnet.

Das europäische Wunder fußt auf zwei Pfeilern: dem deutsch-französischen Tandem, das eine Vertiefung der EU und die Währungsunion nach der Vereinigung Deutschlands möglich machte, und den guten deutsch-polnischen Beziehungen, die Stabilität und Aufschwung bei Deutschlands unmittelbaren Nachbarn im Osten sichern. Und das ist durchaus zutreffend.

Gelegentliche Nörgeleien und ungeregelte Altlasten dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß die einvernehmlichen Beziehungen Deutschlands zu seinen unmittelbaren Nachbarn (bei aller Asymmetrie der Potentiale) zu den größten Gewinnen des grandiosen Wandels im Europa der letzten 50 Jahre gehören.

Wie immer ist dabei die Frage berechtigt, was von diesem „europäischen Wunder“ ein hausgemachter Erfolg der neuen deutschen Selbstfindung nach jenem schrecklichen Krieg war, der von Berlin ausging und in Berlin endete, und was den Deutschen durch die äußeren Umstände aufgezwungen wurde, durch die Besatzung, die Amputation und Teilung Deutschlands durch die Siegermächte und den 40jährigen Prozeß der Umerziehung in der Zwangsjacke einer rationalen, angelsächsischen Demokratie.

Mit ihren 50 Jahren ist die Bundesrepublik reif und schicksalserfahren. Sie wirkt völlig berechenbar und zuverlässig, auch wenn sich ihr Selbstverständnis nach wie vor als so löchrig wie Schweizer Käse erweist.

Das ist ein zugleich spannender und enervierender Zug an den Deutschen. Fast alle europäischen Völker haben irgendwelche Probleme mit sich selbst. Den Polen fällt es schwer, sich von ihrer Rolle als angeblich größter Leidtragender der europäischen Geschichte zu trennen, den Franzosen wiederum, sich von der Vorstellung zu verabschieden, die ganze Welt träume französisch, und die Russen quält oft die Frage, ob sie noch als eine Weltmacht angesehen werden.

Die Deutschen verblüffen ihre Nachbarn immer wieder mit ihrer rigorosen Behäbigkeit und gleichzeitig rastlosen Unsicherheit: Sind wir schon „normal“? Haben wir unsere nationalsozialistische Vergangenheit ausreichend bewältigt? Oder auch: Wie stellt sich Deutschland der Um- und Nachwelt dar? Als weltläufig oder eher allzu betulich, als einflußreich und beliebt oder als auftrumpfend und allzu dominant?

Die bundesrepublikanische Debattenkultur ist bestechend für einen Polen, sie zeugt von innerer Unruhe und Lebendigkeit, auch wenn sich dabei recht vieles im Leerlauf dreht. Daß in der Bundesrepublik inzwischen eine attraktive Streitkultur entwickelt wurde, können weder die Farbbeutel noch die faulen Eier verwischen, die gelegentlich die Maßanzüge deutscher Politiker bekleckern. Schuldfrage, „Bewältigung“ der Vergangenheit, Historikerstreit, Gauck-Behörde, Standortbestimmung – manche dieser Begriffe sind schon seit Jahrzehnten Exportartikel der Bundesrepublik. Die deutschen Selbstzweifel wurden somit fast zu einem Besitzstand und Wegweiser der politischen Psychoanalyse in manchen Nachbarländern.

Der Unterschied ist nur, daß sie in Deutschland manchmal geradezu als Selbstzweck erscheinen oder auch als eine Flaniermeile: Ob Walser- oder Handke-Debatte, man muß sich dabei sehen lassen, wenn man etwas auf sich hält. Doch bei allem Eifer, mit dem man öffentlich streitet, wirklich tiefgreifende Reformen und Veränderungen werden in der Bundesrepublik nur sehr zäh erarbeitet, sei es nun das Ladenschlußgesetz (das noch immer vor allem die Schließung und nicht die Öffnung der Läden regelt) oder eine „große“ Steuerreform. Schocktherapien liegen den Bundesdeutschen nicht, man diskutiert, kennt die Herausforderungen bestens und wartet auf große Koalitionen, die dann in breitem nationalem Konsens die großen Probleme anpacken. So schien es jedenfalls bis zum September 1998, als erstmals in der bundesrepublikanischen Geschichte eine Regierung (nach 16 Jahren!) direkt abgewählt wurde. Der Wähler hatte also doch endlich Mut zum Risiko.

Vom Osten her gesehen erscheint die Bundesrepublik wie ein Trumm von Stabilität, aber auch Bewegungslosigkeit, beruhigend und ein wenig irritierend zugleich. Man kann an diesem Felsen Anker werfen, aber eine große Abenteuerreise führt an ihm vorbei. Amerika und England geben heute den jungen Polen den Ton in Politik und Wirtschaft an. Deutschland ist unübersehbar da, liegt aber dennoch abseits. Nicht einmal die traditionellen deutsch-polnischen Themen – Vergangenheit, Entschädigungen, Bodenaufkauf und dergleichen – können die Aufmerksamkeit bannen. Flexibilität, Deregulierung und rascher Aufstieg sind die große Hoffnung, und die befriedigt man lieber in Übersee.

Eine Überraschung war für viele Nachbarn, zumal für Polen, die schwierige innere Vereinigung Deutschlands nach 1989. Man hatte in Polen ja eigene Erfahrungen mit einem geteilten Land und einer geteilten Nation – und zwar nicht nur „läppische“ 40, sondern ganze 123 Jahre lang. Die alten Teilungsgrenzen sind in Polen zwar bis heute spürbar, doch einen so tiefen „Ossi“-“Wessi“-Gegensatz kennt man ebensowenig wie das Phänomen einer Nostalgiepartei wie der PDS. Denn die polnischen Postkommunisten von der SLD führten das Land ja nicht nur in die Nato, sondern die meisten von ihnen standen auch zum Bombenkrieg der Allianz in Jugoslawien. Kwasniewski trennt somit von Schröder weitaus weniger als von Gysi.

Gerade vor dem Hintergrund des Krieges in Jugoslawien erscheint die Bundesrepublik in ihrem 50. Jahr vielen Polen als leuchtendes Beispiel für die erfolgreiche Reparatur der Geschichte eines Volkes, das sich von einem verbrecherischen Regime hatte in die Irre leiten lassen. Allerdings gehen sie nicht soweit wie etwa Goldhagen, der die Serben so maßregeln möchte wie die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg.

Doch die deutsche Erfahrung, daß durch die Einsicht in die eigenen Verfehlungen nicht nur eine Erneuerung, sondern auch eine würdige Rückkehr in die europäische Völkergemeinschaft möglich ist, läßt auch für den Balkan hoffen. Vorausgesetzt, Europa vergißt nach dem Friedensschluß in Restjugoslawien nicht die Lehre aus der Geschichte der Bundesrepublik – nämlich daß nur die Einbindung in die europäischen Strukturen den nötigen disziplinierenden Rahmen für die innere Wandlung und Modernisierung eines Volkes bildet, das sich von seinen völkischen Wahnillusionen nicht selbst zu befreien vermochte.

Das gelungene Beispiel der deutschen Erneuerung ist aber keinesfalls universell. Der historische Erfolg der Bundesrepublik ist das Kind eines „Wirtschaftswunders“, das in dieser Form nur im Treibhaus des Kalten Krieges möglich war. Den aber wird es zum Glück nicht mehr geben. Insofern wird man für Jugoslawien andere Modelle finden müssen. Deutschland bleibt eben doch ein Sonderfall in der Geschichte. Adam Krzeminski

Deutschland ist ein Trumm an Stabilität, beruhigend und etwas irritierend

Die Bundesdeutschen diskutieren gerne, lange und manchmal folgenlos