Flüchtlinge im eigenen Staat

In Montenegro leben heute etwa 100.000 Flüchtlinge. In dem früheren Touristenstädtchen Rozaje sind sogar 40 Prozent der Einwohner auf der Flucht. Von Urlaubsidylle ist nichts mehr zu spüren  ■ Von Thomas Schmid, Rozaje

Es war einmal ein Städtchen namens Roaje in Montenegro, und das Städtchen war ein Kurort. Im Sommer kamen die Urlauber, um die gesunde Luft in den Pinienwäldern auf über tausend Meter Höhe zu atmen, im Winter stand man an den wenigen Skilifts Schlange. Auch kamen Jäger von weither, um hier Waldhühner und Wildschweine zu schießen, nur die Bären waren geschützt. Und die Einheimischen lebten nicht schlecht. Die einen vermieteten Zimmer, die anderen verkauften Souvenirs, viele verdienten an den Touristen ein Zubrot.

Ein bißchen erinnert der Ort mit den Ferienchalets noch immer an die alten Zeiten. Doch vor sieben Jahren hat sich alles schlagartig geändert. Damals kamen Tausende von Flüchtlingen aus Bosnien an, von Serben vertriebene Muslime. Hier fanden sie Aufnahme. Denn Roaje liegt im Sandak, einer Region, die vorwiegend muslimisch besiedelt ist und zur einen Hälfte Serbien und zur andern Montenegro gehört.

Von den damals Vertriebenen sind lediglich etwa 250 geblieben. Sie sind heute eine kleine Minderheit unter den Flüchtlingen. Heute leben nach Angaben der Regierung knapp 19.000 Kosovo-Albaner in Roaje, die UNHCR spricht von 16.000. So genau läßt sich das nicht feststellen. Denn jeden Tag kommen neue Flüchtlinge aus der Region von Pec über die Berge, und jeden Tag fahren auch wieder welche weg, um sich unten am Meer, im fernen Ulcinj, der letzten Stadt Montenegros vor der albanischen Grenze, anzusiedeln. Zehntausende Kosovo-Albaner sind in den letzten Monaten durch Roaje gezogen.

Im Amtsjargon sind es keine Flüchtlinge, sondern IDPs, „internal displaced persons“, denn sie leben weiterhin in „ihrem“ Staat, in Jugoslawien, das aus Serbien und Montenegro besteht. Serbien vertreibt sie, Montenegro nimmt sie auf. Etwa 75.000 Kosovo-Albaner sind inzwischen in die kleinere jugoslawische Republik geflüchtet. Rechnet man die Bosnier hinzu, so leben heute über 100.000 Flüchtlinge in Montenegro, das sind bezogen auf die Gesamtbevölkerung 16 Prozent, mehr als in Albanien oder Makedonien. Damit ist Montenegro im europäischen Rahmen wohl das Land mit der größten Flüchtlingsdichte. Hochgerechnet: Es ist, als ob Deutschland 13 Millionen Flüchtlinge aufgenommen hätte.

In Roaje, dem Städtchen mit 25.000 Einwohnern, machen die Flüchtlinge sogar über 40 Prozent aus. Sie sind überall, hocken vor der Moschee, lehnen an Hauswänden, sitzen auf Mäuerchen oder in Cafés, ohne etwas zu konsumieren. Denn Geld haben nur die allerwenigsten. Sie fühlen sich sicher hier, denn die Kontrolle über den Ort hat die Polizei. Es sind schwerbewaffnete Spezialeinheiten in Tarnanzügen, die auf Milo Djukanovic hören, den Präsidenten Montenegros, der längst zum wichtigsten politischen Gegner Miloevic' in Jugoslawien avanciert ist. Die jugoslawische Armee, die die Albaner im Verein mit serbischer Polizei und Paramilitärs vertrieben hat, steht jedoch nur wenige Kilometer außerhalb der Stadt. Sie kontrolliert die beiden Straßen, die nach Novi Pazar in den serbischen Sandak und nach Pec ins Kosovo führen.

Am Ortsausgang auf einem freien Feld gleich oberhalb der Landstraße befindet sich das größte Zeltlager. Es ist mit Stacheldraht umzäunt, doch der Draht ist alt und rostig und hat wohl früher dazu gedient, hier abgestellte Lagerbestände einer nahen Fabrik zu sichern. Niemand scheint sich an ihm zu stören. Niemand hindert er daran, das Lager zu verlassen. Niemand hat daran gedacht, ihn niederzureißen. Am Lagereingang steht das Küchenzelt. Hier fassen die Flüchtlinge zweimal am Tag ihr Essen: eine Suppe, etwas Brot und Früchte, was der Magen eben so minimal braucht. Fleisch gibt es nicht, Milch höchstens einen Liter pro Person – wenn es welche gibt. Die Versorgung ist weder üppig noch katastrophal, doch es fehlt an Matratzen, Decken und Babynahrung.

Ali Blakaj hat andere Probleme. Einen Tag, eine Nacht und noch mal einen Tag ist der Mann aus dem gar nicht so weit entfernten Istok unterwegs gewesen, bis er das rettende Montenegro erreichte. Mit seinem zweijährigen Sohn Merigona sitzt er nun in einem der zahlreichen weißen Rundzelte. Irgendwo im fernen Albanien, in einem andern Zelt, sitzt seine Frau mit dem andern Kind. Zwei Tage vor dem Angriff der Nato war sie nach Djakovica gegangen, um Verwandte zu besuchen. Dann wurde sie gezwungen, nach Prizren und von dort nach Albanien zu fliehen. Er hat es über einen Anruf bei einer Bekannten in der albanischen Hafenstadt Durres erfahren, bei der sich auch seine Frau gemeldet hatte.

Dreieinhalb Jahre hat Ali in Deutschland gelebt, bis sein Asylgesuch am 27. Juli 1997 abgelehnt wurde und er das Land verlassen mußte. Sein kleiner Merigona ist in Deutschland geboren. Am Radio hat Ali vom neuen Staatsbürgerrecht erfahren. Nun will er wissen, ob sein Sohn Anrecht auf die deutsche Staatsbürgerschaft hat, und wenn ja, wie er zu diesem Recht kommt. Die deutsche Botschaft in Belgrad ist geschlossen.

Über zwei Drittel der Flüchtlinge sind bei Familien untergekommen. Die Solidarität mit den Vertriebenen ist groß. Aber auch wer im Zeltlager einen Platz gefunden hat, gehört noch zu den Privilegierten. Die Unglücklicheren drängeln sich in der Kristallfabrik. In den beiden großen Montagehallen liegen zwischen den stillgelegten Maschinen Hunderte von Flüchtlingen Körper an Körper. Die meisten sind völlig erschöpft und in dicke Decken gewickelt. Es ist ein Uhr nachmittags, und draußen scheint die Sonne. Die beiden alten Männer, die sich am Eingang niedergelegt haben, starren den fremden Besucher sprachlos an. 36 Stunden seien die beiden pausenlos unterwegs, erklärt ein Student, der sich Billy nennt, ebenfalls Flüchtling ist und fließend Englisch, Französisch und Italienisch spricht. Sie stottern etwas von drei Toten, von Polizei, von Venik, ihrem brennenden Dorf. Auch Billy kann sie kaum verstehen, dann schlafen sie mitten im Gespräch ein.

Emina und Fatmira sind am Vortag aus Pec, der zweitgrößten Stadt des Kosovo, eingetroffen. „Um 15 Uhr klopften Soldaten an die Tür und sagten, wir hätten die Wahl, getötet zu werden oder zu verschwinden“, berichtet Emina, „die serbische Nachbarin hat uns angezeigt.“ Letzteres kann sie zwar nicht beweisen, aber sie ist sich sicher: „Ich kenne sie.“ Die Stadt sei weitgehend zerstört, der historische Kern mit dem Markt vollständig niedergebrannt. Seit Tagen habe sie sich kaum mehr aus dem Haus getraut. Nur die Serben und wenige alte Albaner seien in der Stadt zurückgeblieben. Unter den wenigen befindet sich Fatmiras kranker Vater und ihr Bruder, der ihn pflegt. Fatmiras Gesicht ist so verheult, daß die Spuren der Schläge kaum auffallen. Mit Gewehrkolben sind die Soldaten auf die Flüchtige losgegangen.

„Die Armee hat Roaje und die umliegenden Dörfer umstellt“, sagt die Japanerin Sakura Atsumi, Vertreterin der UNHCR vor Ort, und zeigt auf eine Karte, auf der die mutmaßlichen Stellungen der Armee eingezeichnet sind, „die meisten Flüchtlinge werden im Grenzgebiet verprügelt, bevor sie hier ankommen.“ Am 18. April wurden sogar acht Flüchtlinge auf montenegrinischem Gebiet von Soldaten erschossen. Ein französischer Journalist, der der Sache nachging, wurde eine Woche lang festgenommen. Ermittlungen sind Sache der Armee. Jugoslawien hat schließlich den Kriegszustand ausgerufen.

Die UNHCR ist daran interessiert, die Flüchtlinge nach Ulcinj, der albanisch besiedelten Stadt im äußersten Süden des Landes, zu bringen. Dort sind sie sicherer als in Roaje, das gerade zwölf Kilometer Luftlinie vom Kosovo entfernt liegt. Schon sind in Besnik, einem Dörfchen der Gemeinde Roaje an der Straße nach Novi Pazar, Soldaten aufgetaucht und haben die Bewohner aufgefordert, das Dorf zu verlassen.

Die Gefahr, daß Miloevic das unbotmäßige Regime in Montenegro über das Schüren von Unruhen oder gar über einen Putsch beseitigen will, ist noch nicht gebannt. Die Flüchtlinge von Roaje wären wohl die ersten Opfer, wenn die Armee die Kontrolle über Montenegro, das sich weigert, das Kriegsrecht anzuwenden, übernehmen würde. Allerdings wären sie dann im Süden des Landes auch nicht mehr sicher. Am vergangenen Samstag holten Soldaten 20 Männer aus einem Bus, der die Grenze von Montenegro nach Albanien überqueren wollte. Die Passagiere, alles Kosovo-Flüchtlinge, wollten Verwandte im Nachbarland besuchen. Von den Männern fehlt seither jede Spur.

Erst müsse in Ulcinj die notwendige Infrastruktur aufgebaut werden, meint Sakura Atsumi, erst dann werde die UNHCR versuchen, die Flüchtlinge dort anzusiedeln. Viele warten das nicht ab und machen sich unabhängig auf den Weg. Jeden Tag fahren Busse los. Für 20 DM ist man dabei. „Wer Geld hat, geht“, sagt Nusret Kalac, Bürgermeister von Roaje, und man hat den Eindruck, daß er recht froh darum ist. Die Probleme wachsen ihm über den Kopf. Die Holzfabrik hat geschlossen, weil Serbien und das Kosovo die Hauptabnehmer waren. Die Papierfabrik beherbergt Flüchtlinge.

Die Textilfabrik wird auch bald zumachen. Und von Tourismus keine Spur. Der Verbrauch an Strom und Wasser ist drastisch gestiegen. Wer soll das alles bezahlen? „Die kommunalen Probleme können nicht mehr gelöst werden“, resümiert Kalac, der gewiß nichts gegen die Flüchtlinge hat, eher gegen die vielen Hilfsorganisationen, „die nur ihre eigenen Interessen verfolgen“. Aber er sehnt sich nach dem goldenen Zeitalter zurück, in dem die Menschen kamen, um in Pinienwäldern durchzuatmen, Ski zu fahren und Wildschweine zu jagen.

Die Polizei ist dem Präsidenten Milo Djukanovic unterstellt, der längst zum wichtigsten Gegner Milosevic' avanciert ist

Die große Gefahr, daß das unbotmäßige Regime in Montenegro bald beseitigt wird, ist noch lange nicht gebannt