Stolz, Strenge, Schweigen

■ Im Sekundentakt in den Selbstmord: „Die Sanfte“ in der Heinrich-Heine-Villa

Eine geschlagene Stunde lang tickt die Standuhr in der Heinrich-Heine-Villa. Das große Pendel schwingt hin und her und hin und her. Im Sekundentakt erinnert es sanft und leise an die unaufhörlich vergehende Zeit. Neben der Uhr sitzt ein Mann (Werner Wölbern), sehr aufrecht, sehr akkurat. Die Hände umklammern ein Bündel Wäsche, darauf liegt ein Paar Schuhe. Ihre Schuhe. Und dann erzählt er zum Rhythmus der tickenden Uhr stockend vom Selbstmord seiner Frau. Nach und nach ordnet er seine Gedanken und entfaltet die Chronologie einer gescheiterten Ehe.

Die Sanfte heißt dieses Stück nach der gleichnamigen Erzählung von Dostojewskij. Denn für sanft hält der knausrige Pfandleiher seine viel jüngere Ehefrau – ein Irrtum, wie sich herausstellt. Regisseurin Ursina Greuel betont in ihrer behutsamen Inszenierung den ernsten und selbstsicheren Charakter der „Sanften“. Wenn Sylvia Schwarz die Bühne betritt, spricht sie zwar kaum, strahlt aber Würde aus. Dafür verleiht Werner Wölbern, der mit diesem Quasi-Monolog, den er selbst bearbeitet hat, seine Abschied vom Thalia nimmt, dem nach außen hin strengen Ehemann viele sanfte Züge. Hoch konzentriert und mit zurückhaltender Mimik wirft Wölbern Facetten eines altmodisch anmutenden Zwangscharakters auf, der jede Spontaneität unterdrückt und damit sich und seine junge Ehefrau in die Einsamkeit treibt. Formen will er die Sechzehnjährige, mit Stolz und Strenge, bis sie irgendwann dankbar erkennen soll, daß er nur aus „Großherzigkeit“ so gehandelt hat. Die Ehe als eine Erziehungsanstalt für die Frau, der Mann als Lehrer des Aneinandervorbeischweigens – das wirkt streckenweise etwas stereotyp. Doch Dostojewskij hat den männlichen Charakter psychologisch ausgeklügelter differenziert, als es zunächst erscheint. Der egoistische Pfandleiher – einen Namen hat er so wenig wie seine Frau – schwankt zwischen eigener Schwäche und dem Klischee des starken Mannes, und am Ende ist er sogar zur Selbstreflexion fähig. Die zunehmende Sprachlosigkeit und Entfremdung zwischen den Eheleuten macht Ursina Greuel in ihrer leisen Inszenierung auch körperlich spürbar. Anfangs betritt Sylvia Schwarz noch die Bühne, spricht ein paar Worte und geht wieder ab. Dann reden die beiden nicht mehr miteinander, sondern gegeneinander an. Und noch später sitzt sie nur noch stumm am Fenster wie ein Möbelstück.

Als ihr Mann endlich das Schweigen bricht, sich ihr zu Füßen wirft und seine Liebe beteuert, ist es zu spät. Sie stürzt sich aus dem Fenster. Jetzt ist sie endlich die treibende Kraft. Und ihm bleibt nur, das Pendel der Uhr anzuhalten.

Karin Liebe