Komplexes Weltregieren

Zukunftsprojekt der zweiten Moderne: Der Bremer Politikwissenschaftler Michael Zürn über das Regieren jenseits des Nationalstaats  ■   Von Lothar Probst

Seit gut 200 Jahren ist der Nationalstaat das bewährte Gehäuse des demokratischen Verfassungsstaates. Aber nun gehe, so das Echo aus vielen Richtungen, das nationalstaatliche Zeitalter seinem Ende entgegen, denn die Folgen der Globalisierung würden die Fundamente dieses Modells – also Volkssouveränität, Öffentlichkeit und Demokratie – untergraben. Was also kommt danach? Das Buch von Michael Zürn, „Regieren jenseits des Nationalstaats“, entwirft eine Antwort auf diese Frage. Ohne den Nationalstaat bereits vollständig zu verabschieden, skizziert er die Eckpunkte eines neuen Modells, das mit den Imperativen der Globalisierung durchaus verträglich erscheint.

Der gemeinsamen Negativutopie, in der Globalisierung als unabwendbare Leidensgeschichte inszeniert wird, will Zürn eine positive und machbare Alternative entgegenstellen. Zürn wählt zur Charakterisierung der neuen Qualität weltweiter Interaktionsprozesse und verdichteter sozialer Handlungszusammenhänge den Begriff der „gesellschaftlichen Denationalisierung“, der die schleichende Entmachtung des Nationalstaates besser abbilde als der häufig zur Leerformel erstarrte Begriff der Globalisierung. Gesellschaftliche Denationalisierung sei keinesfalls auf den ökonomischen Bereich einzuengen, sondern sei ein vielfältiger Prozeß, der nicht nur Waren und Kapital, sondern auch Umweltstoffe, Kulturgüter, Menschen und militärische Bedrohungen umfasse.

Gestützt auf umfangreiche OECD-Statistiken wendet sich Zürn der Frage zu, ob der Nationalstaat angesichts der beschriebenen „Entgrenzungsprozesse“ überhaupt noch in der Lage ist, zu regieren. Er nennt vier Ziele des Regierens in komplexen Gesellschaften: die Gewährleistung äußerer und innerer Sicherheit, die Herstellung eines symbolischen Bezugssystems für die Identitätsfindung, die Sicherstellung der Legitimität politischer Entscheidungen sowie die Beförderung wirtschaftlichen Wachstums und sozialer Sicherheit.

An den Zielfunktionen „innere und äußere Sicherheit“ sowie „soziale Wohlfahrt“ demonstriert Zürn, daß gesellschaftliche Denationalisierung nicht zwangsläufig bedrohlich ist. In der OECD-Welt sei es vielmehr auf dem Gebiet der inneren und äußeren Sicherheit in den letzten 30 Jahren zu einem Rückgang von „staatsinduzierten und einer Zunahme von gesellschaftsinduzierten Bedrohungen und Risiken“ gekommen, was sich z. B. in einer Abnahme des militärischen Bedrohungspotentials und einer signifikanten Zunahme der organisierten Kriminalität ausdrücke. Auch im Bereich soziale Sicherheit könne man nicht ohne weiteres davon sprechen, daß in Folge von wirtschaftlicher Denationalisierung eine wohlfahrtsstaatliche und verteilungsgerechte Politik unmöglich geworden sei. Zürn kritisiert in diesem Zusammenhang das Gerede vom Standort Deutschland, dem es an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit fehle. Nicht Leistungsfähigkeit, sondern die Phantasielosigkeit in der Gestaltung des Wohlfahrtsstaates sei das Problem.

Im zweiten Teil widmet sich Zürn dem Hauptanliegen seines ambitionierten Projekts, nämlich der Frage, was zukünftig an die Stelle nationalstaatlichen Regierens treten kann, wenn die Kongruenz von sozialen und politischen Räumen zunehmend auseinanderfällt. Zürn macht kein Hehl aus seiner Sympathie für diejenigen Politikformen, die nationalstaatliches Regieren bereits jetzt überschreiten. Insbesondere in der Etablierung sogenannter internationaler Regime sowie in den Aktivitäten weltweit agierender Akteure wie Greenpeace und amnesty international erkennt er die Keimformen transnationalen Regierens.

Je weiter sich Zürn zum Ende des Buches auf sein Projekt „komplexes Weltregieren“ zubewegt, desto mehr entfernt er sich von den Einwänden, die gegen die Vision einer transnationalstaatlichen Politik unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten von ihm selbst und anderen formuliert werden. Die Frage, welche demokratische Legitimität die von Zürn skizzierte Mehrebenenpolitik, die er als „governance by, with and without government“ bezeichnet, beanspruchen kann, wird nicht befriedigend beantwortet. Wo entsteht in dieser Mehrebenenpolitik die Gemeinsinn- und Identitätskomponente, die Zürn selber zur einem wesentlichen Merkmal eines handlungsfähigen demokratischen Gemeinwesens erklärt? Die Hoffnung, daß durch eine transnational angelegte Politik des Regierens neue „Formen einer zivilen kollektiven Identität“ jenseits des Nationalstaats entwickelt werden können, läßt sich bisher empirisch kaum belegen. Im Gegenteil: Außerhalb der OECD-Welt, aber auch in dieser selbst, wächst neben dem Zwang zur Universalisierung von Verhaltensweisen zugleich die Tendenz zur Vergewisserung und Behauptung lokaler, regionaler, kultureller und religiöser Identitäten, die eher das Gegenteil von transnationalen Wir-Gemeinschaften verkörpern. Globalisierung tendiert wohl eher dazu, die Institutionen der Demokratie durch die virtuelle, aber meistens konsequenzlose Kommunikation zwischen atomisierten Individuen zu ersetzen. Die von Zürn identifizierten neuen Träger einer „deliberativen Demokratie grenzüberschreitender Assoziationen“, wie sie z. B. Greenpeace und andere Nichtregierungsorganisationen darstellen, können in diesem Kontext manchmal sogar eine eher problematische Rolle spielen. Die im nachhinein vielfach kritisierte Brent-Spar-Kampagne von Greenpeace, die im prächtigen Zusammenspiel mit einer sensationsorientierten Presse ins Werk gesetzt wurde, war wohl eher ein Beispiel für die Inszenierung von „hysteroiden Erregungs-Gemeinschaften“ (Peter Sloterdijk), mit denen sich allenfalls eine Art von Gefühlspolitik verwirklichen läßt.

In dem Versuch, ein Kontrastpropramm zu den Desillusionierungen der Postmoderne zu entwerfen und die erste Moderne kritisch und reflexiv zu überwinden und gleichzeitig fortzuschreiben, bleiben sie letzten Endes einem linearen Fortschritts- und Geschichtsverständnis verhaftet. Globale Konfliktlinien wie der Ost- West-Konflikt, so Zürn, sind in der denationalisierten Welt von heute und morgen schlechterdings nicht mehr denkbar. Woher diese Gewissheit? Noch vor etwas mehr als zehn Jahren hatte die Geschichts- und Sozialwissenschaft das, was sich 1989 in Osteuropa ereignete, für unmöglich erklärt. Das Politikverständnis, das dieser linearen Logik mit dem ihr Glücks- und Sicherheitsversprechen zugrunde liegt, bleibt zwangsläufig instrumentell. Politik wird eindimensional auf Problemlösung reduziert. Deren Instrumente sind effiziente bürokratische Verwaltungen, intergouvernementale Vereinbarungen und internationale Regime, ihre Agenten sind wissenschaftliche Expertenkommissionen, die Gesandten der internationalen politischen Community, die verschiedenen wirksam organisierten Interessen- und Lobbygruppen aller Länder und als Beigabe „deliberative Netzewerke“ von regierungsunabhängigen Organisationen, die sich häufig dem Lobbyverhalten der anderen immer mehr anpassen. Das alles muß zu einem Chor effizienten Verhaltens zusammengefügt werden, damit das Regieren den Ansprüchen der denationalisierten Welt auch in Zukunft genügen kann. Wo in dieser Vision der Ort ist, in dem Entscheidungen über gemeinsame Regelungen von den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern getroffen werden, wo und in welcher politischen Sprache in der denationalisierten Welt ohne einen gemeinsamen symbolischen Bezugsraum gestritten und entschieden wird – das bleibt leider auch in dieser Vision ein ungelöstes Problem. Michael Zürn: „Regieren jenseits des Nationalstaates“. Edition Zweite Moderne, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1998, 395 Seiten, 38 DM