Eine Welt der Muße

Leisure World in Kalifornien ist ein Wohngebiet für Senioren: gesegnet mit allen Schikanen der Freizeitgesellschaft, grün und großzügig. Und weit weg vom Jugendkult in den großen Städten  ■   Von Hanne Schweitzer

„Seit langem habe ich mir die Statistiken der zunehmend älter werdenden Bevölkerung angeschaut. Ich ging davon aus, daß jemand mit einem speziellen Wohnprogramm für diese Gruppe auf den Markt kommen würde, aber es passierte nicht. Also fing ich an, mir meine eigenen Gedanken darüber zu machen, welche Art des Wohnens Älteren gefallen würde. Meine Theorie war, daß sie unabhängig, aber in der Nähe ihrer eigenen Altersgruppe leben wollen, daß sie ihre Quartiere besitzen wollen, es aber vorziehen, sich nicht um Reparaturen kümmern zu müssen.“

Ross Cortese, ein Selfmademan aus East Palestine in Ohio, gibt 1961 in einem Interview mit dem Herald Examiner in Los Angeles seinen Plan zum Bau einer Retirement-Siedlung in Kalifornien bekannt. Einen Steinwurf von Laguna Beach und dem gerade fertiggestellten San Diego Freeway entfernt, hat er das sanft gehügelte, 12 Quadratkilometer große Gelände einer Ranch gekauft. Hier will er, als Prototyp, eine Siedlung mit allen essentiellen Zutaten bauen, die erforderlich sind, um aktiven Menschen einen Ruhestand auf einem Qualitätsniveau zu ermöglichen, das nie zuvor erreicht wurde: Leisure World, Welt der Muße soll sie heißen und aus 18.000 Wohneinheiten bestehen, die von einer Mauer umgeben sein sollen.

Der Kaufpreis von acht Millionen Dollar für das Land ruiniert Cortese nicht – immerhin wird er von der amerikanischen Herrenschneider-Assoziation zu einem der bestangezogensten Männer der Welt gewählt.

Während er diese Ehrung mit Lawrence Olivier teilt, will er die University of Southern California (USC) an den erhofften Gewinnen aus dem Siedlungsbau beteiligen. Nicht uneigennützig – versteht sich. Um zu erfahren, woran Älteren gelegen ist, macht er mit Topping, dem damaligen Präsidenten der USC, einen Deal, der aus drei Vereinbarungen besteht: 1. Die Universität legt Cortese binnen eines Jahres eine ausführliche Studie über die Bedürfnisse und Wünsche älterer Menschen vor. 2. Sie erhält dafür von Cortese 50 Dollar für jede der 18.000 Wohneinheiten, die er verkauft. 3. USC gründet mit diesem Geld ein gerontologisches Forschungsinstitut.

Inzwischen gehört Leisure World zu den attraktivsten Retirement-Siedlungen in Amerika. Eine Viertelstunde vom Pazifik und vom Smog in Los Angeles ebensoweit entfernt wie von dem in San Diego, beginnt ein Besuch in Leisure World mit der Ungewißheit vor einem der zwölf Eingangstore. Steht mein Name im Gästebuch oder hat Gin vergessen, daß ich kommen wollte? Doch die Schranke geht hoch, und der Pförtner winkt mich auf das Gelände der ehemaligen Ranch. Ich fahre an Häusern vorbei, die so großzügig in der künstlich bewässerten Parklandschaft verteilt sind, daß eine ähnliche Siedlung, heute geplant, dem kalifornischen Gesetz gegen Landmißbrauch zum Opfer fallen würde. Überall gilt die Höchstgeschwindigkeit von 25 Meilen, an jeder Kreuzung stehen vier Stoppschilder. Mehr Vogelstimmen sind zu hören, als Häuser, Autos oder Menschen zu sehen sind. Eukalyptusbäume spenden Schatten, der perfekt geschnittene Rasen wächst exakt bis zur Bordsteinkante. Kein Café, kein Geschäft, kein Büdchen – nichts Urbanes. Jede Art von Business, auch das medizinsche, ist aus der Siedlung verbannt, findet jenseits der Mauer statt.

In Pools mit olympischen Abmessungen kraulen Ladys mit Sonnenhut. Ein Mann mit weißem Spitz an der Leine erhebt sich von einer Bank, auf deren Lehne Werbung für ein Alzheimer-Zentrum klebt. Er steigt auf sein Rennrad und radelt lässig davon. Die Mauer ist nirgendwo zu sehen. Hier sollen 21.000 Menschen leben. Aber wo sind sie?

Einige wenige gleiten lautlos mit ihren Golf-Carts über den Golfplatz, vier unternehmungslustige Herren warten darauf, daß der schattige Tennisplatz frei wird. An einer von 15 Drehscheiben in der Töpferei arbeitet eine Ex-Dänin, ihr Mann ist in der Schreinerwerkstatt nebenan zugange. Vor der Schrebergartensiedlung werden die Pferdeäpfel des Leisure World eigenen Reitstalls abgeladen, in Fitneßcentern sitzen Männlein und Weiblein in Dreierreihen auf Trimmfahrrädern, treten in die Pedale und lesen Zeitung dabei.

Gin ist 52, Nate 56. Sie arbeitet jenseits der Mauer halbtags bei einer Versicherung, er gibt innerhalb der Mauer Tennisstunden und arbeitet zwei Tage pro Woche auf dem Golfplatz. „Hier ist es wie früher“, sagt Gin, „du gehst aus dem Haus, und jeder grüßt jeden. Nachbarschaftshilfe ist selbstverständlich.“

Daß sie in einer Altensiedlung wohnen, finden die beiden normal. Die Kinder waren aus dem Haus, Nates Entschluß, mit 56 in Pension zu gehen, stand unverrückbar fest, und Tochter Anne hatte ihr Interesse avisiert, das Haus ihrer Eltern kaufen zu wollen. „Das hat mir den Start in ein neues Leben leichter gemacht“, Gin lacht. „Nicht wegen der Finanzen, Nate und ich, wir haben immer gearbeitet, sondern wegen der Kontinuität. Unsere Enkel würden in die gleiche Schule gehen, an der Nate als Lehrer gearbeitet hat, und sie würden im gleichen Haus und in der gleichen Gegend aufwachsen, wie unsere Kinder. Wir wollten auf keinen Fall nach Michigan zurück, wo wir als junge Leute hergekommen sind. Kalifornien gefällt uns noch immer viel zu gut, und wir wollten unbedingt in diese Retirement Community ziehen. Leisure World ist eine selbstverwaltete Stadt, die Haus- und Wohnungspreise sind nicht in die Spekulation gegangen.

Gut die Hälfte aller Wohneinheiten gehören unserer Genossenschaft, und alles ist so großzügig und luxuriös gebaut, wie das in den 60er Jahren üblich war. Und wo sonst, wenn nicht in einer Retirement Community werden dir so viele Möglichkeiten geboten, ohne lange Anfahrtswege bis ans Ende deines Lebens aktiv zu sein?“

Gin und Nate wohnen in einem Reihenhaus. Vier separate Eingänge führen zu vier ebenerdigen Wohnungen, deren Vorgärten sich zaunlos in das allgemeine Wachsen und Blühen der Parklandschaft einfügen. Keine Distel und kein Löwenzahn weit und breit. Kurortniveau. Wieviel Platz und wie wenig Menschen es in den 60ern in Kalifornien gegeben hat, merkt man auch den Häusern an. Grundriße zwischen 80 und 270 qm wünschten sich die Älteren in der Kennedyära, und Cortese baute sie. Dazu Pools, Büchereien, Kirchen jedweder Konfession, Clubhäuser, Theatersäle, Werkstätten.

Voraussetzung für den Erwerb einer Genossenschaftswohnung in Leisure World: Nach dem Kauf muß ein Jahreseinkommen von 27.500 und Vermögen im Wert von 50.000 Dollar übrig sein. Gin und Nates Wohnung ist 93 qm groß. Samt begehbarer Wandschränke und komplett (und selbstverständlich rollstuhlgerecht) eingerichteter Küche, samt Atrium und schattigem Parkplatz haben sie 1996 dafür Genossenschaftsanteile im Wert von 56.000 Dollar gezeichnet. Dazu kommen Nebenkosten von 320 Dollar im Monat. Darin sind auch die noch fälligen Raten jener Kredite enthalten, die Cortese anfang der 60er Jahre von der Federal Housing Agency (FHA) in Washington zur Verfügung gestellt wurden: Laufzeit 40 Jahre, Festzins 5 1/2 Prozent.

Gin, die sich jeden Tag zur Arbeit in die „normale“ südkalifornische Welt begibt, streicht vor allem die finanziellen Vorteile des Genossenschaftslebens heraus. „Für 40 Dollar im Jahr kann ich hier fünfmal in der Woche Tennis spielen. Nate hat 70 Dollar gezahlt, damit er ein Jahr lang dreimal pro Woche auf dem 27-Loch-Golfplatz spielen kann. Allein dadurch haben wir unsere Umzugskosten und die neuen Möbel raus. Die Enkel kommen her und nehmen Reitunterricht, das kostet hier sieben Dollar pro Stunde.“

Nate betont den Sicherheitsaspekt. „Du brauchst hier das Haus nicht abzuschließen und das Auto auch nicht. Aber vor allem: Du bist weg von diesem Jugendlichkeitswahn und bekommst ältere Leute als positive Beispiele mit. Du siehst 85jährige ausreiten oder an der Werkbank in der Metallwerkstatt arbeiten. Dadurch wird das eigene Älterwerden enorm erleichtert. Und wo, wenn nicht in einer Retirement Community, kannst du dir leisten, endlich mal das tun, wozu du dein Leben lang keine Zeit hattest? Wenn du Kinder großziehst und an deiner Karriere arbeitest, vertagst du viel von dem, was du eigentlich gerne machen würdest, auf später. Jetzt gehört uns die Gegenwart. Und wenn es den Trash-Medien gelingt, den Krieg der Generationen hochzukochen – bitte schön, ich bin gewappnet: Uns Älteren gehört nicht nur der größte Teil der Wirtschaftsgüter in diesem Land, wir entwickeln auch zunehmend wieder ein Bewußtsein für unsere gesellschaftliche Macht. Immerhin hat unsere Generation den Vietnamkrieg beendet und die Rassentrennung bekämpft.“