Hausboot auf dem Hudson

Das ideale Refugium für Stadtneurotiker – nur fünf Minuten vom Broadway entfernt. Ein amphibisches Leben mit beruhigendem Wellenschlag, Wind, Sonne und Blick auf den Fluß  ■   Von Stefan Schomann

Du läufst die 79. westwärst, kreuzt Broadway und Riverside Drive, steigst den Steilhang hinab und gelangst ans Ufer des Hudson. An fünf Docks, die wie Finger in den Fluß greifen, dümpeln 100 Hausboote. Von der Luxusjacht bis zum Wrack, von der Villa bis zur Nußschale. Manche Menschen leben hier, weil sie sich nichts anderes leisten können, manche, weil sie alles andere schon besitzen.

A-Dock. Acht Monate dauert er nun schon, der Honeymoon von John und Nancy. Außerdem hat Nancy gerade siebzig Pfund abgespeckt und greift jetzt wieder zu – also quietschvergnügt, die beiden. John und Nancy produzieren Fernsehshows. Tagsüber kommt eine Sekretärin an Bord, nach Feierabend sitzen sie an Deck, rund und gemütlich wie die Wassertürme auf den Hochhäusern. Nancy, Amateursopranistin, schmettert Aida. John nahm 1968 für Kanada an den Olympischen Spielen teil. Im Viererbob, letzter Platz. Die Sonne entrollt einen roten Teppich über den Fluß – Barbecue is ready.

Meg Berlin schaut vorbei: 44, silberblond, Liv-Ullmann-Augen. Sie zählt zum amerikanischen Uradel. 1739 verließen ihre Vorfahren Abraham, Isaak und Jakob die Preußenstadt, um Berlin, Pennsylvania, zu gründen. Als Aktivistin kämpft sie gegen Treibnetzfischerei und Antarktismüll. Sie züchtet Kräuter auf dem Kajütendach und hat dem Dock einen Container für Plastikflaschen erstritten.

B-Dock. Gene Greenspun hat sein „Elefantenboot“ eigenhändig gebaut. Eine Kreuzung aus Arche Noah und Schuhkarton, die ihn seit 35 Jahren behaust. Davor war er Formel-1-Pilot, jagte noch mit dem alten Testarossa über den Nürburgring. Ein einsamer, lederhäutiger Mann mit Tempo und Toupet. Der Speedfreak hat zwei Spielsachen. Für den Tag ein Rennboot, für die Nacht eine Batterie von Synthesizern, auf denen er als „Gino Verdi“ Schnulzen zelebriert. Gene liebt die Menschen, sonst hätte er sein Boot nicht schallisoliert.

Alfred ist der Daniel Düsentrieb der Kolonie. Seine jüngste Erfindung: ein Sex-Stuhl. Für Frauen solo oder mit Liebhaber. Zur Präsentation veranstaltete er eine Sexchair-Party, seither zirkulieren die Liebesmöbel im Bekanntenkreis. Die erste Probandin brachte ihres nach zwei Wochen zurück („meine Mutter kommt zu Besuch“), die zweite zwickte sich die Finger ein.

Der Abendspaziergang auf der Mole, dem alten Holzsteg, der als Wellenbrecher quer vor den Docks liegt, gehört zu den Ritualen des Wasserdorfes. Ewiges Nordlicht schimmert über Manhattan. Hubschrauber sausen als Kugelblitze flußaufwärts. Die Kolonie dümpelt unbelangbar vor sich hin. Früher, da war was los! Da legte hier Onassis an, und die Callas entstieg dem Meer. Bis 1988 lag auch die „Americana“ hier, jene Stahljacht, auf der Al Capone Schnaps schmuggelte und die dann nacheinander den Woolworths, den Huttons, Woodrow Wilson und John F. Kennedy gehörte.

C-Dock. Die Leute am C-Dock gelten als was Besseres. Auf der größten Jacht wohnen Gary und Marilyn, reiche Nörgler, an denen nur der Name ihrer Katze bemerkenswert ist: Mummenschanz. Hier leben die Sportreporterin, der Seebär, die brasilianische Buddhistin, der unsichtbare Detektiv und der Aids-Arzt mit dem Jugendstilboot. Daneben hämmert Yama. Der japanische Bildhauer fischt Treibholz aus dem Fluß und formt es zu großen, wulstigen Skulpturen. Seit fünf Jahren schnitzt er Tag um Tag, schweigt und lächelt.

Ein Hello nach links, ein Kopfnicken nach rechts – die Umgangsformen sind alles andere als betulich. Gerade weil die Dorfbewohner so eng nebeneinander leben, halten sie die Privatsphäre heilig. Selbst den Nachbarn ruft man erst einmal an, bevor man an seine Kajüte klopft. Kaum jemand schließt sein Zuhause ab – einmalig für New York. In dreißig Jahren wurde erst einmal etwas gestohlen. Einer verwahrt gar eine Impressionisten-Sammlung an Bord. Das erste Gemälde schenkten ihm die Eltern, als er sechzehn war. Es zeigt ein Zimmer mit Seeblick. Seitdem zieht es ihn ans Wasser. „Ich will dem Bild nahekommen.“

D-Dock. Nach zwei Wochen auf dem Hudson bist du reif für eine Sitzung mit Daniel, dessen Diplome wie Geweihe an den Kajütenwänden hängen: Hypnose, Streßmanagement, Akupressur. Das Wasser, erklärt er, verdoppele die Wirkung der Therapie. Allein der Weg durch den Park und über die Docks entspanne die gestreßte Klientel. Irgendwann wird aus der Unterhaltung ein Monolog Daniel schaltet auf Schlafzimmerblick, die Hypnose beginnt. Du spürst den Atem des Wassers. Draußen herrscht hoher Mittag, die Hitze brütet über dem Fluß. Sirenen dringen fern wie Vogelgezwitscher herüber. Auf einem breiten Gedankenstrom treibt dein Bewußtsein dem Meer der Teilnahmslosigkeit entgegen.

E-Dock. Hier hat sich eine italienische Kolonie zusammengefunden. Mit Sonnenbrille, Schal und Lederjacke wirkt Michele wie ein Pornoproduzent. Und? Er ist einer. Megan macht ihm ihre Aufwartung, ein Pornostar mit sehr langsamer Stimme und einem waffenscheinpflichtigen Schminkkoffer.

Nebenan haust Saro, der Sizilianer, der aussieht wie einer dieser bocksfüßigen Jünglinge aus einem Pasolini-Film. Und? Er ist einer. In den sechziger Jahren war er als Schauspieler recht erfolgreich, hat bei den Tavianis mitgemischt und einen Film produziert, den Antonioni dann nie gedreht hat. Seit fünf Jahren lebt er friedfertig und melancholisch auf dem Wasser .

Simone sieht aus wie ein italienischer Aristokrat. Und? Er ist einer. Gentleman, Scharfschütze , Spiritist. Er dreht Dokumentarfilme für die UNO. Das Hochparterre des Bootes dient der Meditation, das Tiefparterre der Selbstdarstellung. Um die Barockrahmen von zwanzig Spiegeln aus den Beständen der Heilsarmee winden sich Schlangen mit Glühkerzen. Selbst der Fernseher steckt im Goldrahmen, „a 17th century Sony“.

Ein amphibisches Leben. Das Geschunkel der Boote, das Wellengeflüster, Wind und Sonne, den Blick auf den Fluß – nie hast du in New York so gut geschlafen wie hier. Der ganze Bootshafen ein einziges Wasserbett.