Der verlorene Krieg

Nationale Interessenvertretung oder globales Korrektiv? Der Konflikt der Nato mit Milosevic ist keiner zwischen Gut und Böse, sondern das Dilemma warmer und kalter Politik. Rückfragen an eine Linke  ■ Von Dirk Baecker

Der Krieg der Nato um das Kosovo hätte nur gewonnen werden können, wenn Jugoslawien bereits nach den ersten Bomben kapituliert hätte. Denn dann hätte niemand gemerkt, daß er in Wahrheit schon verloren war.

Es ist eine der wichtigsten Einsichten der Soziologie der Macht, die von Machiavelli bis Luhmann wiederholt wird, daß Macht nur derjenige hat, der sich darauf beschränken kann, Gewalt anzudrohen, weil er bereits mit der Drohung seine Ziele erreicht. Muß die Gewalt eingesetzt werden, hat die Drohung ihr Ziel verfehlt, und die Ohnmacht liegt offen zutage.

Tatsächlich ist dies die Situation der Nato auf dem Balkan. Sie führt einen Krieg, um ihr Gesicht zu wahren. Sie hat sich verschätzt und verschanzt sich nun hinter Maximalwerten, die den Eindruck aufrechtzuhalten erlauben, sie befände sich im Recht. Sie schützt den Krieg als humanitäre Aktion um der Menschenrechte willen vor, weil sie die Macht nicht hat, Jugoslawien zu einer Politik zu zwingen, die vom Westen akzeptiert werden könnte. Der Westen ist ohnmächtig und sieht es nicht ein. Aber alle können es sehen, und deswegen muß der Krieg geführt werden, damit, wenn schon die Politik nicht mehr zum Fürchten ist, es wenigstens die Waffen sind.

Natürlich wundert man sich, wie es soweit kommen konnte. So hat man sich schon oft gewundert. Und immer zu spät. Ich schalte das Fernsehen aus, um die Bilder nicht mehr zu sehen, die nur noch Ohnmacht und Betrieb vermitteln, und die sorgenvoll in Falten gelegten Gesichter von Politikern, denen man ansieht, daß sie zu spät aufwachen und nur noch aufwachen, um sich in Verhältnisse verstrickt zu sehen, gegen die kein Kraut gewachsen ist.

Wie konnte es kommen, daß eine ganze Riege von Politikern und Militärs für einen Krieg verantwortlich zeichnet, denen nichts selbstverständlicher ist als die Absicht, jeden Krieg zu vermeiden? Wie konnte es kommen, daß hier eine Linke auf ganzer Linie versagt, die davon ausging, alles besser machen zu können? Vom Generalsekretär der Nato bis zu seinem Oberbefehlshaber, vom amerikanischen Kriegsherrn bis zu seinen englischen und deutschen Partnern hat man es mit Leuten zu tun, die im Bewußtsein leben, ihre Lektionen gelernt zu haben. Sie haben die Schlußfolgerungen aus der Geschichte gezogen, die zu ziehen sind. Sie haben die Literatur gelesen, die dazu den Rücken stärkt. Sie haben sich die analytischen Kriterien zurechtgelegt, mit denen dieser Welt zu begegnen ist. Und sie haben Literaten wie Gabriel Garcia Márquez und Bernard-Henri Lévy gefunden, die ihr Loblied zu singen wissen.

Wer hätte geeigneter sein können, jene Politik zu führen, die György Konrád in der FAZ vom 30. April als „Zersetzung“ lobt: als stille Form, den anderen mit Erfolg dazu einzuladen, sich die Gesellschaft nicht mehr anders vorstellen zu können, als es auch der Einladende tut? Aber nein, diese Linke steht sich selbst im Weg. Sie ist paradoxerweise unfähig zu lernen, weil sie voll und ganz davon überzeugt ist, bereits gelernt zu haben. Sie hat ihre Lektionen hinter sich und ist daher wehrlos Situationen ausgeliefert, die nur scheinbar ins Schema passen, in denen jedoch tatsächlich und möglichst schnell Neues gelernt werden müßte. So kommt es, daß ausgerechnet die linke Intelligenz nicht weiterweiß, denn sie hat bereits so viel gelernt und hat so viel damit zu tun, am Gelernten festzuhalten, daß sie nicht weiß, wie sie es bewerkstelligen soll, in dieser neuen Situation wieder etwas zu lernen.

Würde sie nicht, wenn sie jetzt etwas lernt, nur unter Beweis stellen, daß das, was sie bisher gelernt hat, korrekturbedürftig, also falsch gelernt ist? Mit wem soll sie das aushandeln? Wer ist in der Lage, so schnell die neuen Lernschritte zu legitimieren und die Korrektur des alten Wissens zu beglaubigen? Welche Lehrer kann man da auf seiner Seite wissen? Welches historische Gewissen, das die Linke mit sich trägt, wäre in der Lage, dieses Ausmaß an Pragmatismus, ja Opportunismus mitzutragen? Tatsächlich, das ist das Dilemma: Wer lernt, ist ein Opportunist.

Was man in dieser Situation vor allem lernt, ist Neid auf die Rechten. Denn die, das weiß die Linke, haben alle Lektionen noch vor sich. Sie haben noch keine Konsequenzen gezogen und sind daher frei, situationsabhängig und konsequenzenlos, pragmatisch, opportunistisch und reinen Gewissens zu lernen, was jeweils zu lernen ist. Sie wissen nicht, was sie lernen, das ist dann wieder ihr Problem, aber immerhin lernen sie, und sei es auch nur, um es dann wieder zu vergessen.

Wir können uns diese linke Politik, die glaubt, alle Lektionen bereits gelernt zu haben, und unfähig ist, rasch, verläßlich und vielleicht sogar reflektiert neu zu lernen, in der Weltgesellschaft nicht mehr leisten. Wir brauchen eine Politik, die in der Lage ist, zur Kenntnis zu nehmen, daß diese Weltgesellschaft nicht mehr normativ, sondern nur noch kognitiv geordnet werden kann. Bereits vor dreißig Jahren hat Niklas Luhmann festgestellt, daß die Entstehung der Weltgesellschaft nichts anderes bedeutet als ein Dominieren der lernfähigen Systeme wie Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Massenmedien über normativ beharrende Systeme wie Politik und Recht. Was wir in jüngerer Zeit unter dem Stichwort der „Globalisierung“ diskutieren, ist nichts anderes als die Einsicht, daß Politik und Recht uns nicht mehr davor schützen können, uns in der Weltgesellschaft lernfähig zu verhalten, das heißt zur Kenntnis zu nehmen, daß die Welt nicht so sein muß, wie wir sie uns wünschen. Unsere Märkte, unsere wissenschaftlichen Gepflogenheiten, unsere technischen Standards, ja sogar die Dramaturgie unserer politischen Information können nationalen Mustern nicht mehr folgen, sondern müssen sich in einem internationalen Durcheinander behaupten, das weit davon entfernt ist, sich noch in irgendeiner Weise kolonial ordnen zu lassen. Und auf diese koloniale Ordnung, geben wir es zu, müssen wir insgeheim hoffen, weil wir es nicht gelernt haben, den Konflikt der Kulturen anders als kolonial zu denken.

Nichts ist für die gegenwärtige Situation der westlichen Politik bezeichnender als der Rückfall in das alte Muster, den Feind für böse und sich selbst für gut zu halten. Man sollte sich angewöhnen, immer dann, wenn man soweit gekommen ist, das eigene Denken für bankrott zu erklären. Die Kategorie des Bösen dient nur dazu, die vermeintliche Unausweichlichkeit der eigenen Aktionen einem anderen in die Schuhe zu schieben. Tatsächlich hat die moderne Gesellschaft die Kategorie des Bösen verabschiedet. Sie gebraucht sie nur noch als eine Art Opium des Volks, das heißt als Profilierung der Möglichkeit, sich für gut zu halten. Der Horror ist ein Thema des Kinos. Die Unmenschlichkeiten und Gewalttätigkeiten der Wirklichkeit sind dagegen entweder kalkuliert oder verzweifelt. Im Gegensatz zu dem, was das Böse einmal war, können wir sie fast immer verstehen. Schon deswegen ist das Auschwitz-Zitat für diejenigen, die am Bösen festhalten, so unverzichtbar: Hier ist das Böse noch wirklich unverständlich. Aber dann müssen wir sorgfältig darauf achten, daß wir die in jüngerer Zeit vorgelegte Nationalsozialismusforschung nicht versehentlich zur Kenntnis nehmen. Denn hier wird mehr verstanden, als wir verstehen wollen.

Die für die Weltgesellschaft wesentliche Unterscheidung lautet nicht gut oder böse, sondern kalt oder warm. Wer lernt, und zwar in jeder Situation lernt, das heißt nicht nur gelernt hat, ist kalt. Der jugoslawische Präsident ist in diesem Sinne kalt, denn er kennt seinen Westen. Er hat ihn dort studiert, wo er am westlichsten ist, als Banker in New York. Und er treibt die Nato zur Verzweiflung, weil er täglich neu lernt und bereits aus den ersten Bomben gelernt hat, daß er den Krieg politisch gewonnen hat, sosehr er ihn auch militärisch verlieren mag. Unsere linken Politiker dagegen sind warm. Sie wenden die Idee der „atlantischen Wertegemeinschaft“ gegen einen Feind, den sie einer archaischen Gemeinschaftsideologie bezichtigen. Dankenswerterweise hat ihnen Handke diese Ansicht bestätigt. Unsere Politiker sind warm, denn sie müssen nicht mehr lernen, sondern nur noch dem Richtigen zum Durchbruch verhelfen. Aber sie sind hilflos, wenn ihnen nicht Wärme, sondern Kälte begegnet.

Die Weltgesellschaft fordert von uns eine strikte Lernhaltung. Sie fordert Kälte. Sie fordert, sich durch die Lektionen von gestern nicht binden zu lassen. Die Linke, die heute den Krieg führt, tut dies nur halbherzig. Sie liebäugelt mit der Kälte, aber sie rechtfertigt sich mit der Wärme. Wirklich kalt ist nur der, der den Krieg ebenso führen wie auch auf ihn verzichten kann. Wirklich kalt ist nur der, der sich vom Krieg nicht verführen läßt. Unsere Linke aber hat sich vom Krieg verführen lassen, weil sie nicht in der Lage war, zur Kenntnis zu nehmen, daß sie den Gegner in die Enge getrieben und ihren Institutionen keine andere Wahl mehr gelassen hat.

Denn zum einen: Eine Staatengemeinschaft, die aufgrund jahrelanger Erfahrung vom Prinzip der „Nation“ vorsichtig Abstand nehmen will, kann dieses Prinzip nicht einem Land vorenthalten, das noch keiner Staatengemeinschaft angehört. Immerhin ist das Prinzip „Nation“ die einzige Versicherung gegen das Problem, das es ohne dieses Prinzip gar nicht gäbe: Solange Politik an territorialen Grenzen festhält, können wegen Grenzen Kriege geführt werden, vor denen man sich nur schützen kann, indem man seine Grenzen kriegerisch beschützt. Das ist eine der Paradoxien, mit denen es die Weltgesellschaft zu tun hat. Der hohe Preis dafür ist, daß jede Nation kalkulieren können muß, wie sicher sie sich auf dem eigenen Territorium fühlen kann. Darum „irrt der Westen“, wie Karl Otto Hondrich in der FAZ vom 24. April festhält, wenn er glaubt, anderen Ländern dieselbe kulturelle und ethnische Heterogenität zumuten zu können, an die er sich nicht ohne schwierige Übung, Rückfälle und Sündenböcke jahrzehntelang hat gewöhnen können.

Und zum anderen: Man muß damit rechnen, daß Institutionen wie die Nato ihre Eigendynamik entfalten, wenn man sie politisch in Anspruch nimmt, ohne die Risiken kalkuliert zu haben, die man damit eingeht. Sie können gar nicht anders, als ihre Ressourcen zu nutzen, wenn sie eine Gelegenheit dazu sehen. Immerhin stehen auch sie selbst immer auf dem Spiel. Sie organisieren die dazugehörende Motivation ihrer Mitglieder. Sie definieren ihre Aufgabe selbst, wenn man ihnen keine gibt und Sorge trägt, daß sie sich darauf beschränken. Warum hört man nicht auf die Alten und Weisen, fragt György Konrád. Warum schaut man sich nicht an, was jede Institutionentheorie von den Dächern pfeift? Warum haben wir es so selten mit Leuten zu tun, die sich kalt und ironisch in die Dinge einmischen? Warum müssen wir uns immer gleich auf der besseren Seite wissen? Die schönste Tugend, die Demokratien einmal nachgesagt wurde, war, daß sie unfähig sind, Kriege zu führen. Das kann es den Demokraten jedoch nicht ersparen herauszufinden, wie man dafür Sorge trägt, daß es bei dieser Tugend bleibt.

Was man in dieser Situation lernt, ist Neid auf die Rechten, die noch alle Lektionen vor sich haben

Wirklich kalt ist nur der, der den Krieg ebenso führen wie auch auf ihn verzichten kann