■ Zwei Männer, eine Partei – der eine konzentriert sich auf sein Amt als Bundesverteidigungsminister, der andere auf seine Würde als Privatmensch. Rudolf Scharping und Oskar Lafontaine sprachen am 1. Mai in Ludwigshafen und Saarbrücken zum Volk.
: Kein Krieg oder kein Wegsehen

Der König ist tot, lang lebe der König. Wie ein heimgekehrter Monarch präsentiert sich Oskar Lafontaine auf der DGB-Kundgebung zum 1. Mai in Saarbrücken. Genau 52 Tage nach seinem Rücktritt genießt es der ehemalige Finanzminister und Ex-SPD-Chef sichtlich, wieder huldvoll Fotografen und Schaulustigen zuwinken zu können. Rosig strahlend wie zu seinen besten Zeiten als saarländischer Ministerpräsident schreitet er neben Amtsnachfolger Reinhard Klimmt an der Spitze des gewerkschaftlichen Demonstrationszuges vom Schloßplatz zum deutsch-französischen Garten. Hier erwarten 12.000 Besucher „ihren“ Oskar mit Hochspannung.

Wird Lafontaine es wagen, Kritik an Bundeskanzler Schröder zu üben? Das ist die bange Frage, die seit Tagen nicht nur die Gazetten beschäftigte, sondern vor allem SPD-Genossen erzittern läßt. Angesichts bislang erfolgloser Bombardierungen im Kosovo können die deutschen Sozialdemokraten derzeit nichts weniger gebrauchen als einen Blindgänger in den eigenen Reihen. Der Fraktionsvorsitzende Peter Struck hat Lafontaine gleich vorweg öffentlich zur Loyalität gemahnt: „Wenn er anderer Meinung ist, dann sollte er zum Telefonhörer greifen, anstatt sich vor ein Mikrophon zu stellen“, so Struck. Der Querkopf von der Saar aber läßt sich keinen Maulkorb verordnen. Seine einstündige, flammende Rede ist eine einzige Absage an den Kurs der Regierung, wenngleich es der Polit-Profi Lafontaine wohlweislich vermeidet, persönliche Adressaten für seine Kritik zu benennen. Der Name „Schröder“ fällt nur ein einziges Mal – in einem Halbsatz, in dem Deutschlands prominentester Aussteiger die einheimische Beteiligung am Kosovo-Krieg rügt.

Lafontaine beschränkt sich auf eine generelle Kritik an den Nato-Strategen, denen er „zwei schwere Fehler“ attestiert: zum einen hätten sie die UNO entmachtet, zum anderen die politische Schwäche Rußlands ausgenutzt, dessen Zustimmung für einen Frieden auf dem Balkan unverzichtbar sei. Nun stecke das westliche Verteidigungsbündnis samt Deutschland in der „Sackgasse“, bilanziert der SPD-Pensionär vernichtend und wettert: „Ich fordere vom deutsch-französischen Garten aus die Verantwortlichen auf, daß die Bombardierungen eingestellt werden!“ Daß hier einer Befehle erteilte, der sich das als Privatier gar nicht mehr zubilligen kann, schert sein Publikum kaum. Frenetischen Szenenapplaus bekommen sogar die finanzpolitischen Auslassungen des Ex-Ministers.

Spätestens als der Landesvater in spe dann nach seiner Ansprache, umringt von einem Troß Journalisten, zum persönlichen Gang über das Gelände ansetzt, wird deutlich, warum er deutschen Politikern so unheimlich ist. Hofstaat kann nur genannt werden, was da mit Tränen der Rührung in den Augen Spalier steht, ihn fotografiert und ihn beklatscht, auch wenn vielen Zuschauern die Enttäuschung darüber anzumerken ist, daß ihr Lieblingspolitiker sich freiwillig vom Regieren zurückgezogen hat. Übelnehmen aber wollen die meisten seiner Fans ihm diese „Fahnenflucht“ augenscheinlich nicht. „Da muß schon was Handfestes zwischen ihm und Schröder vorgefallen sein“, glaubt etwa der Saarbrücker Hüttenarbeiter Ralf Leber stellvertretend für viele. „Aber Oskar ist fair geblieben und hat keine schmutzige Wäsche gewaschen“, so Leber in weihevollem Tonfall.

Die Finger ordentlich schmutzig gemacht hat sich, jedenfalls nach Ansicht seines Publikums, der andere prominente Mai-Redner an diesem Tag: Verteidigungsminister Rudolf Scharping, der sich seinen Kritikern in Ludwigshafen stellt. Ein kleiner Krieg ist ausgebrochen in der Friedrich-Ebert-Halle in Ludwigshafen. Eben noch stand Susanne lauthals schreiend auf dem Tisch. Da rief der pfälzische Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Toni Brunholz, mit schneidender Stakkatostimme nach der Polizei. Das Bier kippt über die Kante, Susanne landet per Polizeigriff unter dem Tisch, ihr Gesicht in den heruntergefallenen Frischwurstbrötchen. Zusammen mit ihrem Freund wird sie abgeführt. „Mörder – Scharping“ haben die beiden auf ihre T-Shirts gemalt.

Rund 600 Menschen sind zur Feier des 1. Mai in den Saal gekommen, ein Drittel protestiert gegen das Nato-Bombardement in Jugoslawien. Jeder mit einem Pappbuchstaben versehen, haben sie einen menschlichen Schriftzug gebildet: „Stoppt den Krieg“, eine schwarze Mahnfrau des Todes aufgebaut. Beim Polizeieinsatz kommt die Buchstabenschlange ins Schlingern, die Todesfrau schwankt in schwarzen Tüchern. Die Sprechchöre und Trillerpfeifen aber verstummen nicht mehr, solange Verteidigungsminister Rudolf Scharping mit gleichbleibend lauter, kaum modulierter, aber durchdringender Stimme seine über einstündige Rede hält. Der DGB-Kreisvorstand hatte im Vorfeld der Veranstaltung gefordert, den seit Januar als Redner vorgesehenen Verteidigungsminister kurzfristig wieder auszuladen. Der Landesverband intervenierte, die unter freiem Himmel im Ebert-Park geplante Veranstaltung wurde aus Sicherheitsgründen kurzfristig in die Halle verlegt.

Scharping steht aufrecht wie ein Soldat am Pult, Anzug und Krawatte hat er seit seinem ARD-Auftritt am Vorabend nicht gewechselt. Die Augenlider sind geschwollen, kaum Mimik, die Haltung vorgebeugt und angespannt steif, die Gesten seiner Hände lasch und fahrig. Er zieht eine positive Bilanz der Regierungsarbeit von Steuersenkungen, Erhöhung des Kindergeldes, Abschaffung der Krankenkassenzuzahlung bis zur Reform des Staatsbürgerschaftsrechtes, in der immer wieder von Menschenwürde, Toleranz und Solidarität die Rede ist.

Die „Aniliner“, Beschäftigte des Chemie-Konzerns BASF, stehen mit ihren Transparenten verloren an der Hallenwand. Sie protestieren gegen den Ausverkauf der Service-Abteilung und den Verlust weiterer Arbeitsplätze. Aber es ist nicht ihr 1. Mai, denn alles, was an diesem Tag an diesem Ort gesagt und getan wird, bezieht sich trotz aller hilflosen Versuche des Gegensteuerns wie von selbst auf den Krieg auf dem Balkan. „In Serbien“, sagt einer, „werden auch Chemiearbeiter umgebracht.“ Der ökumenische Gottesdienst zu Beginn der Verstaltung gerät beim Kirchenlied zur turbulenten Farce: „Weck die tote Christenheit aus dem Schlaf der Sicherheit!“, und Jesus sagt zu den Fischern am See Genezareth: „Tut was ich sage, und ihr werdet leben!“ Das wirkt ungewollt zynisch. Scharping klagt zum Ende seiner Rede Verständnis für den Kriegseinsatz in römischer Rethorik ein. Ein „Ich hätte mir gewünscht, daß der Protest sich entfaltet“ nach dem anderen stellt er den Aufzählungen seiner Kriegsgründe gegen den „skrupellosen Diktator Miloevic“ voran: Vertreibungen schon im vergangenen Jahr und im Januar, Massaker auf den Feldern Kosovos, verbrannte Dörfer, verstümmelte Leichen, vergewaltigte Frauen, mißhandelte Kinder, heimatlose Menschen. Hinten in der Halle rangeln Gewerkschafter. Ein Bad in der Menge verhindert das Sicherheitsgitter. Dann drängen die Bewacher den Minister von der Bühne.Er rede „gequirlte Scheiße“, hat ihm eine junge Serbin zum Abschied gesagt. Giesa Funck, Heide Platen