„Die Erinnerung, die nicht stirbt“

■ Mit dem Kosovo-Krieg werden die Karten für den Friedensprozeß im Nahen Osten neu gemischt. Kurden und Palästinenser ziehen Lehren

Daß ausgerechnet der Westen in Gestalt der Nato zum Schutz der muslimischen Kosovo-Albaner gegen die Politik der ethnischen Säuberung und der griechisch-orthodoxen, also christlichen, Serben angetreten ist, scheint das tiefsitzende Mißtrauen vieler muslimischer Araber gegen den Westen in Irritationen zu stürzen. Zumindest lassen dies die täglichen Kommentare in der internationalen arabischen Presse erkennen.

Nicht minder irritiert ist jedoch auch die öffentliche Meinung in Israel. Während sich die westlich und säkularistisch geprägten Israelis intuitiv mit den verfolgten Albanern des Kosovo solidarisch erklären und teils auch aktiv helfen, zeigen die politisch rechten und religiös-orthodoxen Israelis eher Sympathien für die ethnische Säuberung der Serben gegen die muslimischen Kosovo-Albaner. Schließlich sind ja auch die Palästinenser mehrheitlich Muslime, und man fürchtet, die um die Welt gehenden Bilder von den albanischen Flüchtlingen könnten Erinnerungen an palästinensische Flüchtlingsdramen wecken und vor allem im Westen zu einer noch größeren Solidarisierung mit den Palästinensern führen.

Irritationen also allenthalben. Die neu erwachte Sympathie bei den Arabern im allgemeinen und den Palästinensern im besonderen für den Westen hält sich allerdings in Grenzen. „Es ist“, schreibt der christliche palästinensische Kommentator Joseph Samaha in der in London erscheinenden arabischen Tageszeitung al-HayÛt vom 13. April, „ein geheimer Wettstreit entbrannt zwischen der israelischen und der palästinensischen öffentlichen Meinung um die Identifizierung mit den Opfern.“ Die Palästinenser gedachten am 9. April des 51. Jahrestages des israelischen Massakers an Dutzenden – die Zahlen schwanken zwischen 94 und 253 – Männern, Frauen und Kindern des Dorfes Deir YÛsin, die alle zum Ziel hatten, Angst und Schrecken unter den Palästinensern zu verbreiten und sie zur Flucht aus ihrer Heimat zu bewegen. „Das Gemetzel von Deir YÛsin“, so Joseph Samaha weiter, „war Teil eines Planes zur ethnischen Säuberung, den die Zionisten durchführten.“ In der Tat hat die israelische Öffentlichkeit diese dunkle Seite der Staatswerdung Israels geleugnet oder verdrängt.

Erst die Freigabe der entsprechenden Archivdokumente und ihre Auswertung durch eine neue Generation israelischer Historiker hat im Lande nicht nur zu einem handfesten Historikerstreit geführt, sondern auch – zumindest bei einigen Teilen der säkularistischen Israelis – eine Vergangenheitsbewältigung eingeleitet, die den entscheidenden Nährboden für einen künftigen friedlichen Ausgleich mit den Palästinensern bilden könnte.

„Die gleichen Bilder, die gleichen Schmerzen, die gleichen Schreckensszenarien“, schreibt Bilal al-Hasan in derselben Zeitung am 15. April unter der Überschrift „Die Erinnerung, die nicht stirbt“. Er bedauert, daß es 1948 noch kein Fernsehen gab, das diese Bilder hätte weltweit verbreiten können. Doch er verleiht seiner Hoffnung Ausdruck, daß dennoch die Bilder aus dem Kosovo zusammen mit der in Israel einsetzenden Vergangenheitsbewältigung auch das „europäische Gewissen“ zugunsten des palästinensischen Schicksals wecken könnten, wofür er in der prinzipiell positiven Haltung der EU zur Schaffung eines palästinensischen Staates ein erstes Anzeichen zu erkennen glaubt. Der Einsatz der Nato im Kosovo könnte somit als Nebeneffekt einen wertvollen Beitrag dazu liefern, das tiefsitzende Mißtrauen der arabischen Welt gegenüber dem Westen abzubauen.

Allzu oft wurden die vom Westen gebetsmühlenartig vorgetragenen Forderungen nach Demokratisierung und Einhaltung der Menschenrechte als pure Heuchelei entlarvt. Natürlich sind auch jetzt – vornehmlich in islamistisch genannten Kreisen – immer noch die Stimmen der Anhänger jener Verschwörungstheorie zu vernehmen, die besagt, daß alles Trachten und Handeln des Westens im Verein mit Israel gezielt gegen die arabische und islamische Welt gerichtet sei und daß zum Beispiel die bisherige Weigerung der Nato, Bodentruppen einzusetzen, zeige, daß der Westen die Vertreibung der Albaner aus dem Kosovo billigend in Kauf nehme, ja, in diesem Ausmaß sogar provoziert habe, mithin also das Geschäft des Milosevic betreibe. Doch derlei Stimmen werden seltener und leiser. Neue Stimmen werden lauter, Stimmen der Scham darüber, daß nicht die islamische Welt, sondern der christliche Westen zur Rettung der muslimischen Glaubensbrüder im Kosovo antreten mußte. Und dies, scheint es, nicht aus durchsichtigem wirtschaftlichem oder strategischem Eigennutz wie einst in Kuwait.

Allerdings könnte das antiwestliche Feindbild, das mit dem Kosovo-Einsatz einen breiten Riß bekommen hat, schnell wieder mit neuen Argumenten zusammengeklebt werden, wenn es dem Westen nicht gelingen sollte, die Kosovo-Flüchtlinge am Ende des Krieges wieder in ihre Heimat zurückzubringen und ihre Sicherheit künftig zu garantieren. „Der Krieg im Kosovo“, so endet ein weiterer Kommentar in al-HayÛt vom 15. April, „der aus einer moralischen Verpflichtung heraus begonnen wurde, muß auch mit einem moralischen Ergebnis enden; anderenfalls wird die Nato als Komplize des jugoslawischen Präsidenten dastehen bei einem der abscheulichsten Verbrechen dieses Jahrhunderts.“

Für die Nato-Staaten, allen voran die USA, steht also mehr auf dem Spiel als die Ausschaltung eines Diktators, nämlich die eigene Glaubwürdigkeit. Und wie das Ergebnis des Krieges auch aussehen mag, in jedem Fall werden im Friedensprozeß im Nahen Osten die Karten neu gemischt werden. Gelingt es, den Kosovaren in ihrer Heimat ein Leben in Frieden und Freiheit zu sichern, werden die Palästinenser – und die Kurden – ihre Stimmen lauter erheben können, und der Westen wird nicht umhin können, den Druck auf Israel – und die Türkei – zu erhöhen. Gelingt dies jedoch nicht, werden die Hardliner auf beiden Seiten neuen Auftrieb erhalten.

Die erfolgreichen Unabhängigkeitsbewegungen der Völker des Balkan gegen das Osmanische Reich im 19. Jahrhundert war mit ein Auslöser für die Entstehung des arabischen Nationalismus, der die Araber dann im Ersten Weltkrieg an der Seite der Engländer gegen die Türken und für ihre eigene Unabhängigkeit kämpfen ließ. Nun sehen sie gebannt erneut auf den Balkan und erhoffen sich vom dortigen Ergebnis einen Impuls für einen Frieden mit Israel. Gernot Rotter