Wir haben verloren, ich habe verloren

■ Ist die Nato wirklich der militärische Arm von amnesty international? Oder erleben wir auf dem Balkan das Endspiel der neuen Weltordnung?

Es ist mein neunter Versuch, in der Jugoslawischen Botschaft in Paris anzurufen. Ich versuche ein Visum für Belgrad zu bekommen und werde abgeschmettert mit den Worten: „Für Kriegsverbrecher gibt es nichts!“ Konsul Jovanovic knallt den Hörer auf. Meine Faxe beantwortet er nicht. Eine deutsche Korrespondentin kann nichts anderes sein als Gehilfin der Nato- Propagandisten, so wohl seine Sicht. Daß ich auch halbe Serbin bin, erreicht ihn nicht.

Seit Wochen will ich nach Belgrad, der Zuneigung und der Ratlosigkeit wegen. Herausfinden, ob die Leute dort wissen, was im Kosovo geschieht und ob es sie anrührt. Hinhören, was sich hinter ihren Anti-Nato-Menschenketten verbirgt. Meine nächsten Verwandten und Freunde leben in Belgrad und Novi Sad. Mein 80jähriger Onkel Drasko, der als Partisan gegen Hitler kämpfte, erlebt die dritte Zerstörung Belgrads in seinem 80jährigen Dasein. Meine 49jährige Cousine zittert jeden Tag in ihrem Haus an der Brücke nach Pancewo, wo Jugoslawiens größte Raffinerie brennt. Sie sind alle zermürbt von drei Wochen Krieg. Nicht, weil es schon so viele Opfer gäbe. Sondern sie sehen nicht, daß sich Jugoslawien je normalisieren wird und daß der Balkan noch zu retten ist.

Meine Verwandten sind weitgereist und anständig. Sie vergewaltigen und plündern nicht, sie versetzen ihre Nachbarn nicht in Angst, sie haben kreuz und quer durch die Ethnien geheiratet. Ich war stolz, in den 60ern halbe Jugoslawin zu sein. Da gab es dieses Vorzeigeland, wo die Arbeiterselbstverwaltung praktiziert wurde und die Ideologie nicht betonstarr war. Wo man westlichen Rock hörte und westliche Zeitungen in den Kiosken lagen. Wo die Jugend Minis und Jeans trug. Das Land, das sich aus eigener Kraft vom Hitlerfaschismus befreit und Stalin auch noch getrotzt hatte. Mit dem Aufstieg Milosevics mutierte ich zur halben Serbin. Und meine vielsprachigen kosmopolitischen Verwandten zu international Geächteten. Und jetzt lese ich in manchen Kommentaren: Die Serben, sie sind eigentlich moralische Untermenschen. Es ist Konsens geworden, die Opfer des Kosovo-Krieges zu kategorisieren. Es gibt gute Opfer (die Flüchtlinge und Vertriebenen) und selbstverschuldete (die Zastava-Arbeiter, die als menschliche Schutzschilde ihren Arbeitsplatz retten wollten).

Den falschen Präsidenten zu haben, darauf steht die Todesstrafe. Meine Verwandten sagen, daß ein Drittel der Menschen tatsächlich nicht weiß, was im Kosovo passiert. Aufgrund der Zensur in Belgrad. Ein Drittel will es nicht wissen, weil das eigene Leiden jeden Tag zum Anfassen nah ist. Ein Drittel schämt sich für das Vorgehen der serbischen Milizen, will das aber nur leise sagen. Aus Feigheit und aus Politikmüdigkeit. Als sie vor zwei Jahren zu Hunderttausenden auf Belgrads Straßen laut waren und Milosevic wegfegen wollten, fanden sie auch nur wenig Gehör in der Welt.

Wie kann ich meinem Onkel den „humanitären Krieg“ der Nato erklären? Wie den Einsatz von Bundeswehrsoldaten? Die letzten Deutschen, die er in Uniform sah, waren Nazis. Sie errichteten mit kroatischen Faschisten KZs und internierten meine Familie. Mein Vater entkam ihren Kugeln nur knapp. Vielleicht begreift meine Familie deswegen so schlecht, daß jeder Nato-Angriff eine strenge, aber gerechte Erziehungsmaßnahme ist. Sie wollen nicht einsehen, daß der Westen sie nur zu Vernunft, Demokratie und guter Nachbarschaftlichkeit bomben will. Daß die Nato ab jetzt der bewaffnete Arm von amnesty international ist. Wo war die telegene Flüchtlingshilfe, die große Moraldebatte, als die Krajina „ethnisch gesäubert“ wurde? Wir sagten damals nichts zu den 250.000 Flüchtlingen in entsetzlichen Trecks, zu verbrannten Häusern und Toten auf serbischer Seite. Es paßte sogar ganz gut, daß Kroatien keine unruhige Minderheit mehr hatte. Die ethnischen Säuberungen brachten dem jungen Staat Stabilität, und das war doch, leider, reeller als Menschenrechte.

Ob Kriegsgegner oder –befürworter: Wir haben verloren. Was auf dem Balkan passiert, ist das Endspiel der neuen Weltordnung. Und wir Europäer werden einen hohen Preis bezahlen. Auch wenn Kofi Annan jetzt wieder hofiert wird: Wir haben zugelassen, daß die Vereinten Nationen tödlich geschwächt wurden. Auch wenn die Russen „mit ins Boot sollen“, wie unsere Politiker jetzt höflich formulieren: Wir haben zugelassen, daß Rußland gefährlich gedemütigt wurde. Auch wenn Fischer nun versucht, den Schlamassel der Nato durch diplomatische Hakenschläge schönzufärben: Eine unabhängige Verteidigungs- und Sicherheitspolitik der Europäer kann getrost auf lange Sicht vertagt werden. Ich würde gern meinem Onkel Drasko sagen, daß er nicht nur für die Verbrechen der serbischen Milizen im Kosovo bestraft wird, sondern Versuchsobjekt für die künftige Nato-Strategie ist. Zeitlich begrenzte, definierte Aufräumarbeiten „out of area“. Die USA schaffen es, mit schulterzuckender Billigung der Europäer die Nato zum Weltpolizisten zu machen. Washington und der folgsame kleine Bruder in London setzen eine angloamerikanische Weltordnung auf dem europäischen Kontinent durch. Sie haben das deutsch-französische Duo beiseite gedrängt, das bislang Europa nicht ungeschickt vorwärtsbrachte. Sie haben die Russen in ihrem alten Interessensgebiet vorgeführt. Die neue Arbeitsteilung: Die USA liefern Kommandostruktur, Waffen und Intelligenz des Weltpolizisten, die anderen sorgen für den Inhalt künftiger Bodybags.

Wie kann es ausgehen, frage ich meine Familie in Belgrad. Das Bomben und Morden soll aufhören, egal, wer damit anfängt. Leben zu retten, das kann doch wohl kein Gesichtsverlust sein, meint meine Cousine Jasna. Aber Glaubwürdigkeit ist eine teure Ware. Schon in Rambouillet, schon im Februar, sprachen die serbischen Verhandlungsführer eine „internationale Präsenz“ im Kosovo an. In die Schlagzeilen kam vor allem das kategorische Nein zu Nato- Truppen. Aber es gab auch Bruchstellen, in die die Diplomatie hätte einsteigen können. OSZE, russische Beteiligung, UN-Schutztruppen der Nicht-Nato-Länder, alle „gesichtswahrenden“ Etiketten spielten wir Konferenzbeobachter schon damals durch. Es war Madeleine Albright, die vom Nato- Kommando nicht lassen wollte. Jetzt haben wir drei Wochen Krieg hinter uns, um dieselben Szenarien zu diskutieren. Glaubwürdigkeit kann mörderisch werden.

Die Luftangriffe schaffen ein Europa der Stämme. Zurück ins 19. Jahrhundert. Sonia Mikich