Vorläufiges Ende eines Alptraumes

Nach der Flucht traf sich eine albanische Familie in Makedonien. In ihrem Dorf wurden 26 Menschen getötet  ■   Aus Tetovo Erich Rathfelder

Die junge Frau am anderen Ende des Handys klang verzweifelt. „Wir sind hier 200 Frauen und Kinder, wir sind eingeschlossen, die serbischen Soldaten sind nur noch 150 Meter entfernt ...“ Dann verstummte die Stimme. Der Verwandte der Familie Domi versuchte noch den ganzen Nachmittag an diesem 24. März von der makedonischen Grenzstation Jashinze aus, den Kontakt wiederherzustellen. Es gelang nicht. Was in dem Dorf Kotlina, das nahe der Grenze im Kosovo liegt, geschehen war, blieb im dunkeln.

Jetzt, drei Wochen später, sitze ich der Frau gegenüber, die damals am Handy gesprochen hat. Wir befinden uns in einem Haus in der makedonischen Stadt Tetovo, das Bekannte der Familie zur Verfügung gestellt haben. Merebane Domi ist 21 Jahre alt und froh, über das sprechen zu können, was damals geschehen ist – als 22 junge Männer ermordet und in einen Brunnen geworfen wurden, serbische Soldaten das Dorf zerstörten und die Bewohner einem ungewissen Schicksal entgegenführten.

„Wir haben noch Glück gehabt“, sagt Domi. Die Familie ist wieder zusammen. Mit ihrer Mutter Lokija stand sie damals in der Gruppe der Frauen und Kinder. Mit dabei war auch der jüngste Sohn Derim, der sich als Frau verkleidet hatte. Der älteste Sohn Date, 24, hatte sich in einem Maisschober versteckt, der Vater Zani wurde von den Serben abgeführt. Allen Mitgliedern der auseinandergerissenen Familie gelang später die Flucht über die Grenze.

„Eigentlich fing der Überfall auf uns schon am 9. März an,“ sagt Vater Zani. Der 60jährige Bauer sah damals die serbischen Soldaten auf das 650 Einwohner zählende Dorf zukommen. „Sie kamen mit Panzern, es waren rund 400 Polizisten und Soldaten.“ Sie durchsuchten die Häuser und erschossen zwei Bewohner, Milahim Loku und Emerllok Kuci. Die meisten flohen in den Wald, auch Familie Domi. Nachdem die Soldaten vier Häuser niedergebrannt hatten, zogen sie sich zurück, und die Bewohner trauten sich wieder ins Dorf. Am nächsten Tag flüchteten einige Familien Richtung Makedonien.

Es gab zwar Einheiten der UÇK, sie waren aber zu schwach, um die Dörfer zu schützen. Sie wollten auch nicht durch Kämpfe Massaker provozieren. So jedenfalls sagt es Sohn Date. Am 24. März begann der Angriff um 7 Uhr morgens. Wieder tauchten gepanzerte Fahrzeuge auf, wieder umstellten und beschossen Hunderte von serbischen Soldaten, Polizisten und Paramilitärs das Dorf.

Wie verabredet, zogen die Frauen und Kinder auf den Dorfplatz zur Moschee. Die jungen Männer versuchten zu entkommen und liefen in den Wald. Die alten Männer gingen auch zum Dorfplatz.

Dann kamen die Serben. Sie trugen Gesichtsmasken, nur der Kommandant nicht. Einige der jungen Männer, die versucht hatten zu fliehen, wurden gefangengenommen. Die älteren Männer mußten sich auf den Boden legen, sie wurden getreten und mit Gewehrkolben geschlagen. Wertsachen und Pässe mußten abgegeben werden. Einzeln wurden sie zu ihren Häusern geführt. „Gib mir mehr Geld, sonst verbrennen wir dein Haus“, sagte ein Soldat zu Vater Zani und nahm ihm die gesparten 1.200 Mark ab.

Dann mußten sich die Männer wieder hinlegen. Um 10.30 Uhr wurde der 65 jährige Zimer Loku vor allen erschossen. Der 55jährige Nachbar Idriz Kuci wurde 15 Meter von Zani entfernt erschossen. „Über 5 Stunden lagen wir auf dem Boden, wurden geschlagen und traktiert“, sagt Zani. Unterdessen hatte sich der älteste Sohn Date in einem Schober versteckt. Er hörte Schreie, Schüsse, später Explosionen, wie die Frauen und die alten Männer auch.

Nachmittags um drei wurden die Männer abgeführt. Sie mußten in das eine Stunde Fußweg entfernte Kashan laufen, wurden in eine Polizeistation gebracht und zwei Tage dort festgehalten. „Sie haben uns geschlagen. Ich hatte überall blaue Flecke, Wunden, mein Bein wurde verletzt“, sagt Vater Zani.

Die Frauen wurden in einem Bus nach Kacanik gebracht. Ein Serbe fragte im Walkie-talkie, was mit den Frauen und Kindern zu geschehen hätte. „Wir können sie sofort erledigen und in den Fluß werfen, die Kinder werden in zehn Jahren Terroristen sein.“ Doch er bekam den Befehl weiterzufahren.

In einem Tunnel vor Kacanik bekamen die Frauen wieder Angst. Denn erneut schlugen serbische Bewaffnete vor, sie zu ermorden. Schließlich wurden sie ins Kulturhaus der Stadt gebracht und eine halbe Stunde später freigelassen. Sogar der jüngste Sohn, der als Frau verkleidet war, kam frei.

Vater Zani reagiert nervös auf die Frage nach sexuellen Übergriffen. Merebane senkt den Kopf. „Sie haben uns nichts weiter getan.“ Sie wisse aber von anderen Frauen, daß es in Kacanik und in Feresaj (Urasevac) zu Vergewaltigungen gekommen sein soll.

Nach 32 Stunden befreite sich der älteste Sohn aus seinem Versteck. Elf andere junge Männer hatten ebenfalls überlebt. Im Dorf machten sie eine grausige Entdekkung. Am Brunnen fanden sie Kleiderfetzen und Körperteile. Die Serben hatten die Gefangenen in den Brunnen geworfen und Handgranaten hinterhergeschickt.

„Drei Tage, besser Nächte lang, haben wir versucht herauszufinden, wer hier ermordet wurde.“ Anhand der Kleidung konnten die Überlebenden die Toten identifizieren. Es sind drei 16jährige Jungen darunter, die Großfamilie Loku verlor 14 Männer, darunter ein Vater mit zwei Söhnen, sechs Männer der Familie Kuqi, die Familien Vlahi und Rexha je einen Mann – 22 Männer im Alter von 16 bis 45 Jahren.

Sohn Date wanderte mit den anderen jungen Männern nachts nach Makedonien. Vater Zani wurde nach der Entlassung aus dem Polizeigebäude von einer albanischen Familie in Kacanik aufgenommen. Als dann auch dort die Aktion der Serben bevorstand und schon Granaten abgeschossen wurden, entschloß er sich, wieder aufzubrechen. Mit 60 anderen Personen gelangte er nach Makedonien. Auch die beiden Frauen und der jüngste Sohn waren in Kacanik untergekommen. Als dort der Beschuß begann, flohen sie mit der Gastfamilie nach Makedonien.

Wir sitzen um den Tisch und schweigen. Mutter Lokija hat bisher kein Wort gesagt. „Es war ein Alptraum“, sagt Merebane schließlich.

Sie haben uns immer wieder geschlagen. Ich hatte überall am Körper blaue Flecke, Wunden und mein Bein wurde verletzt.