Ein ganzes Volk von Namenlosen irrt umher

■ In der albanischen Hafenstadt Durräs entsteht eine Kleinstadt aus Zelten. Kaum einer der Flüchtlinge aus dem Kosovo, die derzeit in Albanien eintreffen, besitzt irgendwelche Papiere

In der Zeltstadt von Durräs wurden gerade erst zehn Klohäuschen zusammengehämmert, als ein alter, zerbeulter Lastwagen ohne Nummernschild über die Schotterstraße angefahren kam. Dabei war die Ankunft der ersten Flüchtlinge in diesem von deutschen und Schweizer Hilfsorganisationen errichteten größten Camp in Albanien noch gar nicht geplant. „Abschnitt 1“ des Lagers wird erst am heutigen Montag fertig. Doch den 77 Menschen, die am vergangenen Freitag unter der Plane eines Lastwagens hervorkrochen, war das egal. Sie legten ihre Decken in die aufgebauten blauen Zelte und schauten sich um, wo sie gelandet waren. In wenigen Wochen sollen hier auf dieser Sumpfwiese in der Nähe der Hafenstadt Durräs 18.000 Flüchtlinge leben. Noch wirkt alles gespenstisch, ein Bagger des Technischen Hilfswerks (THW) zieht weit hinten tiefe Abwassergräben.

Die 30 Mitglieder der Familie Pazares aus dem Kosovo-Städtchen Malishevo dürfen für sich in Anspruch nehmen, die ersten Bewohner dieser Geisterstadt zu sein. Das älteste männliche Mitglied der Sippe ist Safet Pazares. Er ist 14 Jahre alt, und seine Mutter Selime streichelt ihm über den Kopf und sagt: „Er hat den Traktor bis zur Grenze gefahren.“ Dort oben in den Bergen bei Kukäs trafen die Pazares eine Familie aus ihrem Nachbarort, die sie mit Lastwagen nach Durräs mitnahmen.

Glück heißt in diesen Tagen für die Flüchtlinge aus dem Kosovo vor allem, einen Lagerplatz zu bekommen, von dem aus sie nicht schon nach Tagen wieder weitergeschoben werden. Ganze Familien sind auf diese Weise in den vergangenen Tagen zerissen worden. Im zweiten Camp von Durräs, das der italienische „Zivilschutz“ errichtet hat, waren schon nach zwei Tagen alle Schlafplätze belegt. Viele der Neuankömmlinge versuchen über den Gitterzaun zu klettern oder sich bei Nacht ins Lager zu schmuggeln. Italienische Polizisten bewachen das Tor. Andere fahren verzweifelt weiter auf der Suche nach einem Schlafplatz.

Zwar weiß man, daß seit Ausbruch des Krieges ungefähr über 300.000 Flüchtlinge nach Albanien kamen, wo sie aber genau sind, kann kaum jemand sagen. Und kaum einer dieser Menschen ist im Besitz irgendwelcher Papiere, die seine Identität belegen. Die serbischen Grenzposten zerissen jedes Papierchen, das sie bei ihnen finden konnten.

Ein Volk von Namenlosen irrt umher. Als ein Mann Stift und Papier bei einem Journalisten sieht, stürmt er auf ihn zu und bedrängt ihn in gutem Deutsch: „Bitte schreiben Sie auf: Ich heiße Delim Hasanaj, mit j am Schluß, und ich stamme aus Suha Reka.“ Er will seinen Namen schwarz auf weiß lesen, so als ob er dadurch erst ganz sicher wäre, noch zu leben. Sein Deutsch hat er in Güglingen bei Stuttgart gelernt, wo er 13 Jahre in einer Hydraulikfirma gearbeitet und seine Ersparnisse für den Bau eines Hauses im Kosovo beiseite gelegt hat. Vor ein paar Tagen hatte er es brennen sehen.

Mit einer schnellen Rückkehr rechnen weder die Flüchtlinge noch die Helfer. „Wir beginnen ab Juni mit der Winterplanung für das Camp“, sagt Ulrich Jedelhauser vom THW, der für diese Woche mit dem großen Ansturm auf das Lager von Durräs rechnet. Noch ist nicht einmal eine Wasserleitung bis ins Camp verlegt.

Die Flüchtlinge werden sich hier erst mal von den Strapazen erholen. Doch wenn die Rückkehr in ihre Dörfer nicht schnell möglich sein wird, fürchten die europäischen Regierungen den zweiten Exodus: mit Hilfe von Schleppern über das Meer nach Italien. Schon jetzt versuchen viele Kosovo-Albaner aus Deutschland und der Schweiz, ihre Verwandten zu sich zu holen. Mit legalen Mitteln hat es bislang keiner geschafft. „Bitte helfen Sie mir“, hatte ein Mann zwei zufällig im Hafen von Bari angetroffene Mitarbeiter des Deutschen Roten Kreuzes angefleht, der seine Familie bis hierher mit der Fähre brachte. Während der Mann noch mit den Rotkreuz-Mitarbeitern sprach, brachten die italienischen Grenzer seine Familie schon wieder auf die Fähre zurück. Philip Maußhardt, Durräs