„Militarismus als Geisteszustand“

■ Ein Jahrhundert „Die Fackel“

Vor hundert Jahren, „Anfang April 1899“, wie die Kopfzeile meldete, erschien in Wien erstmals die durch Karl Kraus verantwortete Zeitschrift Die Fackel.

1919 publizierte Kraus ebenda „Die letzten Tage der Menschheit – Tragödie in fünf Akten“, ein Drama, so stellte er voran, das „einem Marstheater zugedacht“ war, das er 1915 und 1917 aus dem „wortgewordene(n) Grauen“ komponiert hatte und dessen prophetischer Gehalt, der gänzlich entfesselte Wahn der Kriegslust, des Antisemitismus, der Hetze und abgründigen Infamie, sich Zeile für Zeile bewahrheiten sollte.

„Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind gesprochen worden“, versicherte Kraus. Den ersten Akt beschließt ein vierzigseitiger Dialog zwischen Dem Optimisten und Dem Nörgler, letzterer unverkennbar das Alter ego von Karl Kraus.

Den menschheitsgeschichtlichen Schock, den der Weltkrieg als erster Waffengang unter Einsatz gewaltiger Arsenale auslöste, nachdem die Zivilbevölkerung in ein nie gekanntes Abschlachten hineingezogen worden war, hat man später oft zu beschreiben versucht. Kraus' Nörgler konstatiert eine Zäsur: Angesichts „der Verwandlung der Menschheit in maschinelle Energien“ sei „die Welt“ so weit gekommen, „daß sie mit Gasbomben ihre Geschäftsbücher in Ordnung bringen will“. Der „Militarismus als Geisteszustand“, die bis dato eisern währende Gewaltgeilheit der „Pressgenossenschaft“ (Fackel Nr. 1) und ihrer angeschlossenen dt. Minister und Parteichargen, bewirke einen „Krieg zur höheren Ehre der Rüstungsindustrie“.

Dem „Unrat“ der Schröders und Fischers assistiert der Journalismus. Kraus hatte die Neue Freie Presse vor Augen, deren Erbe dieser Tage vom Boulevard bis zum Fernsehen jedes mutmaßlich „berichtende“ Meinungsinstitut antritt. „Hätte man also Phantasie“, erklärt Der Nörgler, „so brauchte man keine Technik, die ihr den Tod ersetzt, keine Zeitung, die ihr das Leben verzehrt. Ach, der Tod draußen schwebt in einer Gaswolke, und das Erlebnis von hier ist im Bericht abgebunden. 40.000 russische Leichen, die am Drahtverhau verzuckt sind, waren nur eine Extraausgabe, die eine Soubrette dem Auswurf der Menschheit im Zwischenakt vorlas (...) Nie war eine riesenhaftere Winzigkeit das Format der Welt. Die Realität hat nur das Ausmaß des Berichts, der mit keuchender Deutlichkeit sie zu erreichen strebt. Der meldende Bote, der mit der Tat auch gleich die Phantasie liefert, hat sich vor die Tat gestellt und diese unvorstellbar gemacht.“ Kein Bericht heute, der nicht vom „Unvorstellbaren“ spräche, keine Sondersendung, keine Pressekonferenz und keine Extraglossen, die nicht den Wunsch verrieten, Serbien sterbien lassen zu wollen. „Und so unheimlich wirkt seine“, des Boten „Identität mit dem Täter, daß ich in jeder dieser Jammergestalten, die uns jetzt mit dem unentrinnbaren, für alle Zeiten dem Menschenohr angetanen Ruf ,Extrausgabee –!‘ zusetzen, den verantwortlichen Anstifter dieser Weltkastastrophe fassen möchte.“

„Alles, was geschieht, geschieht nur für die, die es beschreiben, und für die, die es nicht erleben.“ Das von nichts als krimineller Dummheit zeugende gegenwärtige Gewese weiß um das unverbrüchliche Einverständnis, welches die Presse der „Politik“ entgegenbringt. Die Psychologie diagnostizierte Regression. „Denn der Krieg“, spricht Der Nörgler, „verwandelt das Leben in eine Kinderstube, in der immer der andere angefangen hat, immer der eine sich der Verbrechen rühmt, die er dem anderen vorwirft, und in der die Rauferei die Formen des Soldatenspiels annimmt.“

Eine, immerhin, Jahrhundertbilanz kosmischer Dimension – „im Taumel der Barbarei, kurz vor dem Jahrtausendwechsel“ („hessen fernsehen“, 6. 4. 99). Jürgen Roth