Allianz der Verlierer

Die Wiederbelebung des Zweiten Weltkrieges im Kosovo-Konflikt und das Ende der Relativierung. Die Tragödie aller und der Triumph Milošević'  ■ Von Andrei S. Markovits

Der Ostersonntag fiel diesmal mit dem vierten Tag des achttägigen jüdischen Pessachfestes des Jahres 5759 zusammen. In beiden Religionen werden Freiheit und Auferstehung von politischer Tyrannei und menschlichen Missetaten sowie der Sieg des Lebens über den Tod gefeiert. Vor 50 Jahren, am 4. April 1949, wurde das erfolgreiche und für mein politisches Empfinden auch begrüßenswerteste Verteidigungsbündnis der neueren Geschichte gegründet.

Ausgerechnet an diesem Tag der Andacht und am 50. Geburtstag der Nato mußte sich dieses Bündnis von serbischen Politikern die schlimmste erdenkliche Charakterisierung vorwerfen lassen: den Vergleich mit Nazideutschland und Hitlers Vernichtungskrieg. Der Nazismus und Hitler, die ohne jeden Vergleich – den Gulag des Stalinismus und Stalin eingeschlossen – zur Inkarnation des Bösen im ausgehenden Jahrhundert avancierten, wurden bemüht, um die wohl aus gegenwärtiger serbischer Sicht essentielle Eigenschaft der Nato der Welt zu verkünden.

Diffamierung, natürlich. Propaganda, selbstverständlich! Aber ein Stückchen Wahrheit ist eben auch dabei (und die ist Teil der Tragödie dieses furchtbaren Krieges). Denn wir dürfen wegen der singulären Bestialität Hitlerdeutschlands einfach nicht vergessen, daß ebenfalls im April – in diesem Fall 1941 – die deutsche Luftwaffe Belgrad als Teil des von Hitlerdeutschland angezettelten Krieges gegen das von Serben dominierte Königreich Jugoslawien bombardierte.

Serbische Opfer- und Tätermythologien

Die Serben als Opfer der Naziherrschaft: Dies ist ein Bild, welches mir seit Beginn dieses Konfliktes nicht aus dem Sinn geht. Das war bereits bei den anderen zwei Kriegen der Serben – 1991 gegen Slowenien und Kroatien und 1992 bis 1995 gegen die Bosnier – ein Faktum, das meine normativen Einschätzungen der verwickelten Lage immer wieder stark beeinflußte. Es handelte sich um jene Serben, die – vom in Europa so gängigen Antisemitismus kaum befallen – zahlreichen alliierten Piloten das Leben retteten. Sie waren nicht nur den Gemetzeln der mit Nazideutschland kollaborierenden faschistischen Horden der kroatischen Ustascha und auch einer SS-Division beitretenden Kosovaren und Bosniaken ausgesetzt, sondern auch den gefürchteten Konzentrationslagern wie dem berüchtigten Jasenovac. Und nun werden wieder Serben eben auch von Deutschen angegriffen und von einer deutschen Öffentlichkeit dämonisiert, so daß mir unwohl zumute ist. Ein Déjà-vu also?

Aber dann wandelt sich das Bild für mich drastisch, und plötzlich stehen in meinen Augen die Serben gleich SS-Schergen und Nazimörder da, die jede Art von Greuel an ihren kosovarischen Opfern anscheinend mit Gusto begehen. Schon in den zwei bereits genannten Kriegen benahmen sich die Serben in einer Weise, die einen Vergleich mit Nazdideutschland gerechtfertigt erscheinen ließen. Man erinnere sich nur an Vukovar im ersten Krieg und dann an die Schlächtereien im Bosnienkrieg, für die stellvertretend der Name Srebrenica in den Annalen der zahlreichen Infamien des 20. Jahrhunderts seines Platzes sicher ist. Joschka Fischer sagte es in seiner Pressekonferenz mit Gerhard Schröder und Rudolf Scharping: Es handelt sich nicht um Flüchtlinge, die da nach Makedonien, Albanien und Montenegro zu Hunderttausenden wider ihren Willen wandern. Hier handelt es sich um eine systematische Vertreibung eines ganzen Volkes.

Und plötzlich tauchen dann die Züge auf unseren Bildschirmen auf, mit ihren offenen Fenstern, aus denen Tausende Arme und Köpfe verzweifelt herausragen, und die Bilder der Nazizüge, die die Juden Europas in die Vernichtungslager brachten, kehren ins Bewußtsein zurück. Und dieses Schreckensszenario geschieht kaum eine Flugstunde entfernt vom Europa des Euro, der EU, der neuerweiterten, jubiläumsfeiernden Nato, also jenen Institutionen, Ländern und Einrichtungen, die zum beneidenswerten Symbol des Wohlstands, der Freiheit und der Integration schlechthin in diesem Jahrhundert wurden. Bizarrer und furchtbarer könnte es wohl kaum mehr sein.

Es ist einfach nicht wahr, daß die Serben die Kosovaren nur als Antwort auf die Bombardierung der Nato massenhaft aus dem Land jagen. Ebenso wie die Nazis die Ermordung eines deutschen Diplomaten in Paris als Vorwand zu einem von oberster Stelle koordinierten, lang geplanten Pogrom gegen die Juden des Reiches im November 1938 nahmen, haben jetzt die Serben die Angriffe der Nato dazu benutzt, um ein langersehntes und geplantes Unternehmen der ethnischen Säuberung zu bewerkstelligen. Im Grunde genommen wollen die Serben eine Situation wie zum Ende des 19.Jahrhunderts wiederherstellen, als sie die ethnische Majorität auf dem Gebiet des heutigen Kosovo waren. Auch wenn die Kosovaren die häßliche Geschichte ihrer einstigen Unterdrückung der serbischen Minorität im Kosovo, die Slobodan Milošević 1987 diabolisch als ideales Sprungbrett für seine Machtpolitik nutzte; auch wenn die Kosovaren die faschistoiden Seiten ihrer UÇK nicht verbergen können, ist dennoch klar, daß das Vorgehen der Serben verbrecherisch ist. Da hilft keine Relativierung von Geschichte und keine Rechtfertigung jetziger Missetaten ob der einstigen Traumatisierung durch die Nazis und ihre kroatischen, bosnischen und kosovarischen Verbündeten. Durch ihre Greueltaten in dem nun dritten jugoslawischen Erbfolgekrieg haben sich die Serben in eine Rolle begeben, die der der Nazis ähnlich ist. Für mich sind die Parallelen zum Zweiten Weltkrieg sowohl visuell als auch emotional – wenn auch nicht unbedingt historisch- analytisch – auf allen Seiten dieses furchtbaren Krieges allgegenwärtig.

Dieser Eindruck wird von der Legitimationsrhetorik der Nato noch bestärkt. Die „cheerleaders“ der Nato-Kampagne – das englische Trio Blair, Cook und Robertson – sprechen nur in Bildern des Genozids. Die ansonsten eher antiamerikanische Zeitung der französischen Intelligenz, Le Monde, bemüht Vergleiche mit Hitlerdeutschland, um „die Barbarei“ vor den Toren Europas mit allen Mitteln zu stoppen. Und auch Präsident Bill Clinton verlagerte den Akzent seiner Rechtfertigung für den Waffengang von einem für die amerikanische Öffentlichkeit noch immer sehr problembeladenen Vietnam zu einem eindeutigen München. Wehret den Anfängen, stoppt Diktatoren, erinnert euch an die furchtbaren Konsequenzen des Nichtstuns im Jahre 1938. Aber warum erst jetzt? Und warum so dilettantisch? Glaubte man wirklich, Slobodan Milošević durch Bombardierung seiner Luftabwehr zum Einlenken zu zwingen?

Der Kitt der Interessen

Man hätte doch auch ein ausreichendes Kontigent an Bodentruppen in Stellung bringen können, um für Milošević die Drohung eines wirksamen Nato-Eingriffes etwas glaubhafter zu machen. Aber dafür fehlte die politische Courage und auch das strategische Engagement (im Gegensatz zum strategischen Know-how, welches reichlich vorhanden war) in Washington und auch in den anderen maßgeblichen Entscheidungsstätten der Nato. Vor allem aber fehlt der wichtigste Kitt: der eines gemeinsamen Interesses. Trotz Geburtstagsjubiläen und anderer Harmoniebeteuerungen sind die Nato-internen Differenzen so groß, daß ein gemeinsames Handeln nur mit Blick auf eine moralische Krise denkbar ist, niemals aber in einer militärischen oder gar politischen. Josef Joffe hat als Beispiel hierfür den Alleingang der Amerikaner und Briten gegen den Irak bei deutlicher Opposition der Franzosen und anderer Nato-Mitglieder genannt. Er hätte hinzufügen müssen, daß eine Nato-Mobilisierung auf rein moralischer Basis um ein Erhebliches leichter ist, wenn sie sich gegen ein kleines Land richtet. Und das ist das Rumpfjugoslawien des Sobodoan Milošević nun allemal, egal welches Renomee seine Armee als kühne Kämpfer aus dem Partisanenvermächtnis des Zweiten Weltkrieges immer noch in Europa und Amerika genießt.

Alle Beteiligten sind Verlierer in diesem Krieg: allen voran die Kosovaren, die von den Serben gemordet und vertrieben werden; die Serben, deren Militär, wenn auch nicht die Zivilbevölkerung, von der Nato bombardiert wird; und auch die Nato, die aus dieser Zwickmühle, wenn überhaupt, entweder nur mit einem erheblichen Prestigeverlust oder mit einem großen Menschenverlust in den eigenen Reihen – oder mit beidem – entkommen kann. Der einzige, der bis jetzt in diesen Geschehnissen als Sieger sich wähnen kann, ist natürlich der Kern des ganzen Übels: Slobodan Milošević. Wie Saddam Hussein ist auch Milošević die Not seines eigenen Volkes völlig gleichgültig. Sein einziges raison d'etre – die Festigung und das Ausbauen seiner Macht – ist ihm bereits voll gelungen. Die deutschen Medien können Zoran Dzindzić ob seiner wunderbaren Deutschkenntnisse weiterhin zu täglichen Kommentaren bemühen, oppositionelle Kraft entfaltet er deswegen trotzdem nicht. Vuk Drasković wurde bereits längst von Milošević kooptiert, womit die einzige „Opposition“ in Serbien die des Vojislav Šešelj ist, der die serbische Soldateska erst vor ein paar Jahren ermunterte, Kroaten mit rostigen Löffeln die Augen auszuhöhlen. Wiederum ist es eine Schimäre zu meinen, daß die Nato- Bombardierungen die Opposition in Serbien mundtot machten. Die war bereits stumm, taub und stramm auf Milošević' Linie, lange bevor dieser Krieg begann.

Niemand weiß, wie diese Katastrophe enden wird, doch eines scheint sich bereits abzuzeichnen: die Errichtung einer Enklave im Kosovo, die hauptsächlich durch Nato-Truppen, mit eventueller Beteiligung von Einheiten aus anderen Ländern wie zum Beispiel Rußland, auf dem nominellen Hoheitsgebiet des jugoslawischen Staates jahrelang Kosovo-Albaner vor den Serben schützen muß. Das könnte analog zu Bosnien und den von Amerikanern und Briten geschützten Kurden- und Schiitenenklaven im Norden bzw. Süden des nominell souveränen Irak verlaufen. Daß man bei dieser Lage und solchen Aussichten als aufmerksamer Beobachter unschlüssig und verzweifelt bleibt, sollte man zumindest verstehen, wenn auch nicht entschuldigen. Inzwischen aber leben die Bilder des Zweiten Weltkrieges täglich ungehindert fort.

Andrei S. Markovits ist Professor für Politikwissenschaft an der University of California, Santa Cruz, und zur Zeit Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Zuletzt erschien: „Das deutsche Dilemma: Macht und Machtverzicht in der Berliner Republik“ (Alexander Fest Verlag)