Le Big Bisou

Für den kleinen Tabubruch zwischendurch: Der türkische Teeniestar Tarkan macht lieber eine Karriere in Europa, als sich in eine Kaserne in der Türkei schicken zu lassen  ■ Von Daniel Bax

Eine kuriose Kurzmeldung stand Anfang des Jahres in der türkischen Tageszeitung Hürriyet. Die Minibusfahrer in der westtürkischen Ortschaft Buldan, hieß es da, hätten sich entschieden, auf der Strecke nach der Stadt Denizli keine Kassetten des türkischen Popsängers Tarkan mehr zu spielen. Grund für den Boykott: In Buldan war man erbost über die Weigerung des Popstars, pflichtgemäß seiner Einberufung Folge zu leisten.

Der Miniprotest der Minibusfahrer in der türkischen Provinz wäre nicht weiter von Bedeutung, bildete er nicht den vorläufigen Abschluß einer Affäre, die im letzten Jahr die türkische Popwelt umtrieb. Auf eine ganze Reihe von Musikern hatte nämlich die türkische Armee ein Auge geworfen und unternahm mit einem Mal große Anstrengungen, sie einzuziehen. Der Nachdruck zahlte sich aus, und dem Sänger Serdar Ortaç konnte sogar nachgewiesen werden, daß er mit Hilfe gefälschter Papiere versucht hatte, sich vor dem Wehrdienst zu drücken. Erfolglos blieb der Einberufungsbefehl dagegen im Fall Tarkan Tevetoglu. Der nämlich lebt nicht nur seit geraumer Zeit in sicherer Entfernung in New York. Aus Paris gab der 25jährige zu verstehen, er sei leider unpäßlich. Schließlich feierte er gerade einen unerwarteten Erfolg in Frankreich, wo seine Single „Simarik“ in die Top ten aufstieg.

Die Armee ist etwas Unantastbares

In anderen europäischen Ländern soll dieser Überraschungscoup – der erste wirkliche Hit eines türkischen Musikers im Ausland – jetzt wiederholt werden. Doch während sich Tarkan auf die Veröffentlichung seines Albums in Holland, Italien und in Deutschland vorbereitet, bleibt ihm die Rückkehr in die Türkei zur Zeit verschlossen: Er würde sofort eingezogen werden. Beim Interviewtermin in den Büroräumen seiner Plattenfirma in Hamburg sinniert der Sänger über den Grund für die Hartnäckigkeit der türkischen Musterungsbehörden: „Ich glaube, sie wollten ein Exempel statuieren für die junge türkische Generation: Wenn Tarkan zur Armee geht, müssen auch alle anderen.“ Und weiß dabei um die Schwere des von ihm provozierten Eklats: „Die Armee – das ist vielleicht das größte Tabu, das ich bisher gebrochen habe. Weil es die Leute in der Türkei sehr genau damit nehmen. Der Wehrdienst ist kostbar... Ich stimme damit nicht überein. Weil ich nicht an den Krieg glaube, an das Töten... Ich kann mir nicht vorstellen, eine Waffe zu tragen und Menschen zu töten. Aber in der Türkei glaubt man, daß die Armee etwas Unantastbares ist.“

Für einen türkischen Popstar sind das ungewohnt deutliche Worte. Denn um sich nicht die Sympathien möglicher Käufer zu verscherzen, antworten türkische Popstars selbst auf die Frage nach dem bevorzugten Fußballteam gern ausweichend: die Nationalmannschaft. Zu gesellschaftlichen oder politischen Belangen äußert man sich schon gar nicht – und wenn, dann im Sinne des Status quo. Manche von Tarkans Kollegen haben jedenfalls weniger Probleme, sich als kemalistische Musterschüler zu präsentieren. Patriotischen Pflichtübungen nicht abgeneigt, treten Popsternchen wie Mustafa Sandal auch vor türkischen Fahnen auf, geben, wie der Schönling Çelik, ihrer Verehrung für Atatürk Ausdruck oder widmen dem Unbekannten Soldaten ein Lied, wie es die Sängerin Izel einst tat. Auch türkischer Pop ist, wie könnte es anders sein, nicht frei von nationalistischer Vereinnahmung.

Tarkans Haltung erfüllt da fast schon den Tatbestand der Fahnenflucht. „Ich bin sicher, daß manche in der Türkei sehr wütend sind auf mich. Aber das ist mein Leben. Nicht jeder muß mich lieben.“ Daß ihm eine Karriere in Europa allemal attraktiver erscheint als der Dienst in einer türkischen Kaserne, scheint ihm bisher aber, bis auf ein paar Minibusfahrer, kaum jemand, weder Fans noch die sonst so staatstragende Presse, so richtig zu verübeln. Im Gegenteil: „Insbesondere die intellektuellen Journalisten sind ganz auf meiner Seite“, glaubt Tarkan.

Nun ist Tarkan schon immer ein wenig aus der Reihe getanzt, was gerade ein Grund für seine immense Popularität in der Türkei ist. Als er Anfang der Neunziger erstmals in Erscheinung trat, fiel er durch eine vergleichsweise frische und unkonventionelle Art auf. Der kokette Hüftschwung erinnerte ein wenig an den jungen Elvis, das Auftreten eher an den späten George Michael. Das machte ihn zum Idol Tausender türkischer Teenager – vor allem weiblicher. Es war wie in England zu Zeiten der Beatles: Noch nie zuvor hatte es in der Türkei so viele kreischende Mädchen gegeben wie auf seinen Konzerten. So groß wurde der Rummel um seine Person, daß er sich entschloß, vor Paparazzis und Fans nach New York zu flüchten. Dort arbeitete er an neuen Stücken, und von dort aus startete er zu seinen Tourneen, die ihn auch schon mehrmals durch Deutschland führten. Denn auch unter vielen türkischstämmigen Teenagern in Deutschland steht Tarkan hoch im Kurs, nicht wenige betrachten ihn sogar als einen der Ihren. Im rheinhessischen Alzey geboren, ging Tarkan nämlich erst in die Türkei, als er bereits 15 war. Ein Umstand, der viel zum Verständnis des Phänomens Tarkan beiträgt. „Weil ich hier geboren wurde, bin ich frei und voller Selbstvertrauen aufgewachsen“ meint der Sänger rückblickend. „In der Türkei waren die Leute noch ziemlich konservativ in diesen Tagen. Als ich das erste Mal in die Türkei kam, 1986, angezogen, wie ich mich hier anzog – schon das war zuviel für meine Leute.“

Produktive Irritation

Diese Art Irritationen sollten sich in der Folgezeit fortsetzen, aber höchst produktiv für die Karriere sein. Schon Kleinigkeiten wie sein Ohrring oder seine freimütige Beredtheit in Interviews hoben ihn vom Durchschnitt ab. „Es macht mich unglücklich, von Tabus und Regeln abhängig zu sein, in der Türkei oder anderswo“, sagt Tarkan, der Mann für den kleinen Tabubruch zwischendurch. Um gleich einzuschränken: „Ich denke nicht, daß es meine Mission ist, Tabus zu brechen. Das ist einfach nur die Art, wie ich bin.“

Es ist das alte Lied: Wenn die Verkäufe der türkischen Kassettenläden in Deutschland mitgezählt würden, wäre er auch hierzulande längst in den Hitlisten. Da der türkische Musikmarkt in Deutschland aber völlig für sich existiert, wird Tarkan erst jetzt, wo eine deutsche Plattenfirma hinter ihm steht, einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Wenn er also nun zum bereits vierten Mal auf Tour durch deutsche Hallen kommt, nehmen davon erstmals auch deutsche Zeitschriften, von Bravo bis Max, Notiz. Trotzdem ist das Unternehmen ein Risiko. Denn das Album, mit dem Tarkan in Frankreich bekannt wurde, enthält keine neuen Stücke – es ist lediglich eine Kollektion seiner bisherigen besten Aufnahmen. Und die Single „Simarik“, die in Frankreich so gut einschlug, erschien in der Türkei bereits vor drei Jahren. Für türkische Hörer also nichts Neues. Und für die Deutschen? Ob die sich für die süßlichen orientalischen Klänge erwärmen können, wenn die jetzt über Viva frei Haus kommen, muß sich erst noch zeigen. Denn türkischer Pop ist schon etwas speziell. Die Plattenfirma Arcade hat kürzlich einen Sampler herausgebracht, der einen guten Einblick in das Genre bietet. „Türk Hit Festivali“ ist „die Doppel-CD zur doppelten Staatsbürgerschaft“, wie die Produzenten hoffnungsfroh kalauern. Da kann man hören, was so das Typische am Türkpop ist. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt – das sind die zwei Aggregatszustände türkischen Popfühlens. Spanische Gitarren, schluchzende Geigen und flehende Flötentöne sorgen für einen Hauch Mittelmeer-Melancholie, sowohl bei den tränentiefen Balladen als auch bei den Tanzflächenknallern, deren schwerer Technobeat in erster Linie darauf zielt, mit effektvollem Rumms allsommerlich die Marmorböden der Freiluftdiskotheken an der türkischen Küste zum Erzittern zu bringen. Der Gesang hat immer etwas Klagendes, doch der Rhythmus prescht meist beherzt nach vorne. Mit dramatischem Pathos vibrieren die Stimmen, schrauben sich in die Höhe wie die ornamentalen Armbewegungen, die dazu die passende Tanzgeste bilden. Überkandidelt nur Gesang und Instrumentierung, glatt und sauber dagegen die Produktion, die reichlich Anknüpfungspunkte zum Eurodisco-Sound anderer Mittelmeeranrainer bietet.

Türkischer Pop wird weiblich

Womit auch schon die Grenzen des Genres deutlich werden. Denn auch wenn Tarkan und andere jetzt den Sprung nach Europa schaffen sollten – in der Türkei selbst macht sich schon seit einer Weile Stagnation bemerkbar. Ein großer Teil der Produktion erschöpft sich in der Variation bewährter Muster, Rock und Siebziger-Jahre-Retrospektive hießen auch in der Türkei die letzten großen Trends. Die Zukunft des türkischen Pop, so scheint es, ist immer noch weiblich: Sängerinnen und Songwriterinnnen wie Candan Ercetin, Nalan und vor allem Özlem Tekin, eine Art orientalische Björk, haben beachtenswerte Alben produziert, Interessanteres als ihre männlichen Konkurrenten auf jeden Fall. Und Sezen Aksu, die Übermutter der türkischen Popmusik, stellt weiterhin die kreativen Weichen. Der Herbst der Matriarchin schien angebrochen, als sie im letzten Jahr ein schönes, aber zwiespältig aufgenommenes Album mit Stücken des balkanischen Komponisten Goran Bregović herausbrachte (das jetzt auch in Deutschland erscheinen wird). Keine zwölf Monate später wartet sie nun mit dem nächsten Werk auf, das wiederum in eine ganz andere Richtung weist. Triphop alla turca könnte man das nennen, und zeitgemäße Drum-'n'-Bass-Strukturen verweben sich mit traurigen Balladen ganz im frühen Stil der Sängerin. Kalkuliertes Experiment und souveränes Selbstzitat: nur ein halber Aufbruch also, zur Hälfte eine Rückkehr zum Bekannten – aber trotzdem das Gelungenste, was es derzeit an türkischer Popmusik zu kaufen gibt.

Auch Tarkan verdankt seine größten Hits Sezen Aksu, darunter den in Frankreich als „le big bisou“ erfolgreichen Kußsong „Simarik“ – der Refrain ist ein doppeltes Schmatzen. Sezen Aksus eigenes Album, das sie mit Goran Bregović produzierte, stieß dagegen auch in Frankreich nicht auf die gewünschte Resonanz. „Es hat nicht funktioniert, weil es nicht unsere Kultur ist. Sie hat all die Instrumente des Balkans benutzt, und es hat nicht gepaßt. Ich möchte das nicht kritisieren, aber es war falsch. Die Leute wollen dich mit deiner Kultur kennenlernen“, mutmaßt Tarkan. „Sie sollte als Komponistin arbeiten für den europäischen Markt, für andere Leute Stücke schreiben und diese den Sprung machen lassen. Sie selbst kann nicht einen Song wie ,Simarik‘ singen – sie ist auf einem anderen Level.“ Anders gesagt, sie ist zu alt für so unbeschwert-naive Trällermelodien.

Und Tarkan selbst? Der hat noch eine Option offen. In New York hatte er an einem englischsprachigen Album gebastelt, das aber, mangels erkennbaren Hit- Potentials, auf Eis gelegt wurde. Nach dem unerwarteten Treffer in Europa steht dieses Projekt jetzt wieder zur Debatte. Der türkischstämmige Chef von Atlantic Records, Ahmet Ertegun, hat jedenfalls schon Bereitschaft signalisiert, noch einmal darüber nachzudenken. Der Wehrdienst in der Türkei wird wohl noch ein wenig warten müssen.

In Deutschland veröffentlicht:

Tarkan: (Polygram / Motor)

Sezen Aksu: „Dügün ve Cenaze“ (Motor)

Verschiedene: „Türk Hit Festivali – European Edition“ (Arcade)

In türkischen Geschäften: Sezen Aksu: „Adi Bende Sakli“ (Raks)

Daten der aktuellen Tarkan-Tournee: 27.3. in Brüssel, 28.3. London, 30.3. Böblingen, 31.3. Karlsruhe, 2.4. Nürnberg, 3.4. München, 5.4. Köln, 7.4. Wien, 10.4. Frankfurt, 11.4. Hannover, 12.4. Rotterdam, 14.4. Zürich, 16.4. Kopenhagen, 18.4. Berlin