■ Rußland protestiert gegen die Nato-Aktion – mehr nicht
: Rhetorischer Patriotismus

Indem Primakow seine USA-Reise protestierend abbrach, zeigte er zweierlei: Erstens, daß er Prinzipien hat, die er über die westliche Wirtschaftshilfe stellt; zweitens, daß er für Rußland demonstrativ den Rang einer Großmacht beansprucht, auch wenn er ihn nur noch moralisch begründen kann. Das ist Balsam für patriotische russische Seelen.

Als erfahrener Politiker würde Primakow allerdings auf keinen Fall öffentlich protestieren, wenn das nachteilige Folgen hätte. Einen wirklichen Bruch mit den USA wird er sich auch aus wirtschaftlichen Gründen kaum leisten wollen. Im Westen werden die russischen Proteste daher mit allenfalls pflichtschuldiger Besorgnis registriert. Mehr noch: Der antiwestliche Protest Primakows liegt in westlichem Interesse.

Die bisher einzige große Leistung des russischen Premiers war die Wahrung einer innenpolitischen Stabilität. Es gelang, sowohl Jelzin weitgehend in Quarantäne zu halten wie auch die überwiegend antidemokratische Duma zu beschwichtigen und den Krieg zwischen ihr und einer schwächer werdenden Präsidialverwaltung in der Schwebe zu halten. In dieser prekären Situation versetzt der Kosovo-Konflikt die patriotischen russischen Herzen in Aufregung. Primakow kann da die Unterstützung der Duma nur halten, wenn er sich öffentlich auf die Seite Serbiens stellt.

Diese Gefährdung des innenpolitischen Gleichgewichts taucht zu einem Zeitpunkt auf, an dem die Korruption der Staatsspitze eben zum publizistischen Hauptthema geworden war. Wenn Generalstaatsanwalt Skuratow sich – gestützt auf die Duma – gegen die präsidiale Welt stellte, dann zeigte das, wie sehr Jelzins Macht schon zerfallen ist. Denn der lebenskluge Skuratow würde hier nie ermitteln, wenn er nicht Rückendeckung von Mächtigeren hätte. In dieser Situation bringt der Kosovo-Krieg eine zusätzliche Destabilisierung. Daß sich russische Freiwillige nach Serbien begeben, um gegen den Westen zu kämpfen, oder daß untergeordnete Instanzen ohne Wissen der Regierung Waffen nach Serbien schicken, ist dabei weniger besorgniserregend als der offenbar unaufhaltsame Machtverlust des Zentrums selbst.

Im Interesse einer zeitweiligen Stabilisierung der russischen Situation bleibt – paradoxerweise – den westlichen Politikern nur eine vernünftige Taktik. Sie müßten den Protesten der russischen Regierung so begegnen, daß die russischen Patrioten sie für aufrichtig halten. Erhard Stölting

Der Autor ist Professor für Soziologie in Potsdam